(Leseprobe)
Nur die höhere Macht kann noch helfen. Johannes starrt vor sich hin. Vor ihm steht ein Glas mit schwerem Rotwein, dessen satte Farbe im Schein der Schreibtischleuchte wie geronnenes Blut wirkt. Daneben ein Notizbuch. Die aufgeschlagene Seite ist leer. Seit drei Monaten schreibt er jeden Tag ein paar Zeilen hinein, seit dem ersten Tag, an dem er mit dem Trinken aufgehört hat. Bis heute. Am Morgen hat er sich krankgemeldet, um nicht ins Büro zu müssen. Um die Akten nicht mehr zu sehen. Um den Besuch des Landrates zu verpassen, der ihn wegen der während seines Urlaubs durch einen Defekt abgetauten Kühltruhe sicher zur Rechenschaft gezogen hätte. Es waren nicht etwa Pommes und Fertigpizzen in der Truhe gewesen, sondern aus Schutzgebieten zu Untersuchungszwecken gesammelte Proben: Insekten, Spinnen, Amphibien, Reptilien … sogar ein tot aufgefundener Siebenschläfer. Als Johannes aus dem Sommerurlaub zurück in die Untere Naturschutzbehörde und seinen verhassten Referentenjob kam, stank das ganze Amt nach Verwesung: Die aus Kostengründen billig erworbene Kühltruhe stand in einem fensterlosen Raum mit Klimaanlage, über die dann bei über 30°C mehrere Tage lang der Pestilenzgeruch in allen Räumen der Behörde verteilt wurde.
“Was für eine höhere Macht, zum Teufel?” ruft Johannes laut heraus und sein Kater, der bis eben friedlich auf der Tastatur des Computers schlummerte, fährt erschrocken auf. Immer, wenn Johannes nicht mehr ein- noch aus weiß, lässt er sich krankschreiben. Er ist dann auch wirklich krank oder es fühlt sich zumindest so an. So auch heute. Er hat gehofft, mit dem Nüchternwerden würde es besser werden. Kam nicht das ganze Übel vom Alkohol? Wenn er nur damit aufhörte, würde nicht auch alles andere besser? Der Job in der Behörde, seine Liebesbeziehungen? Fände er dann nicht den Lebensmut wieder? “Nicht eine Veränderung der Lebensphilosophie hilft, auch sich selbst kann man nicht helfen, man soll eine höhere Macht anrufen”, so postuliert es das ‘blauen Buch’ der Anonymen Alkoholiker. Johannes lacht zynisch auf. (…)
(Ende der Leseprobe)