Die Sehnsucht von Cyborgs nach Verschmelzung

(2033, in einer deutschen Kleinstadt)
“Hannah, bitte komm’ ganz schnell nach Hause!” Es klingt mehr nach einem erbärmlichen Hilferuf denn nach einem Befehl. Hannah stutzt und stellt den Ton lauter, während sie die leere Einkaufsstraße mit den vielen geschlossenen Geschäften entlangläuft, das Mobiltelefon in der rechten Hand, in der linken die Trainingstasche und im Ohr die Bluetooth-Kopfhörer.
“Eigentlich wollte ich erst in zwei Stunde zurückkommen, will noch ins Gym- wieso? Is’ irgendwas? Ist was passiert””, fragt sie beunruhigt.
Leon druckst herum. “Naja, also, ich bin ja gerade nach Hause gekommen. Hab’ das Auto in die Garage gestellt. Das Garagentor geschlossen…”.
“Ja? Und?” Hannah bleibt einen Moment stehen, blickt auf ein von innen mit Papier verhängtes Schaufenster einer ehemaligen Drogerie, als könne sie darauf das Gesicht ihres Mannes projizieren. Leon hat seltsamerweise nicht mit einem Videocall angerufen, wie er das sonst immer macht. Sie steht in der einsamen Einkaufsstraße und alles kommt ihr plötzlich spukhaft vor, wie sie dort steht, mit der Stimme ihres kläglich klingenden Mannes im Ohr, – den sie sonst immer auch auf dem Handydisplay sieht -, zwischen all’ den geschlossenen Gebäuden mit verhängten Schaufenstern, alles menschenleer. Ohne Leben. Es gibt nicht mal mehr Spatzen und Tauben hier, ohne Passanten, die Pommes und Farlafelkrümel fallen lassen. Ein Geschäft nach dem anderen hatte zugemacht, erst schossen an dessen Stelle noch Imbisse, Nagelstudios und kleine chinesische Geldwäschergeschäfte aus dem Boden, aber auch die haben nach und nach wieder zugemacht. Einzig einige schmierig aussehenden Döner-Buden, dubiose Shishabars und nach billigem Fett riechenden Asiafoods halten sich und sie sind der einzige Grund, warum Menschen überhaupt noch in die Innenstadt kommen. Die qualitativ besseren Schnellimbisse, die guten Döner- und Kebabläden eingeschlossen, findet man schon lange nicht mehr hier. Die Internetdatenrecherchen haben genau errechnet, wo sie heutzutage platziert sein müssen: Zum Beispiel an den Straßen zwischen den Bürokomplexen und den Wohngegenden, an denen jeder zwangsläufig abends nach Hause vorbeifährt, wenn er nicht gerade im Home-office arbeitet. Wer sich hier in der verlassenen ehemaligen Einkaufsmeile der Kleinstadt vereinzelt noch tummelt, arbeitet nicht. Und schon gar nicht in Büros. Es gibt hier nicht einmal mehr Bettler – wer sollte ihnen hier auch etwas geben?

Leon fährt hörbar verunsichert fort: “Und da wollte ich wie immer von der Garage aus durch die Tür ins Haus…”. Dann Pause am anderen Ende der Leitung. Hannah wartet innerlich stocksteif, dass Leon fortfahren möge. Alles ist gespenstisch still um sie. Sie hält die Luft an.
“Hannah, verdammt, ich komme nicht mehr aus der Garage raus!”, entfährt es ihm dann heftig, fast mit trotzigem Unterton und lässt damit die Katze aus dem Sack.
Hannah atmet wieder tief ein, erleichtert, fast so etwas wie aufkeimende Schadenfreude ermächtigt sich ihrer.
“Nee, das ist nicht dein Ernst?” Hannah schüttelt leicht-boshaft grinsend den Kopf, was jedoch niemand sieht, weder Leon am anderen Ende des Telefongerätes noch sonst jemand in dieser leergefegten Straße.
“Doch! Die Tür zur Wohnung öffnet sich nicht!” Leons Stimme überschlägt sich nun. “Auch das Garagentor nicht mehr. In das Auto komme ich auch nicht mehr rein. Alles ist blockiert. Alles. Ich bin eingesperrt!” Er klingt wie ein kleiner Junge, der vor Verzweiflung gleich heult. “Irgendwas ist mit dem Sensor nicht in Ordnung!”, schiebt er kleinlaut hinterher.
Hannahs Mitgefühl sinkt auf einen Tiefpunkt, in dem Maße, in dem ihre Genugtuung steigt.
“Du meinst das Scheißding, das du dir zwischen Kopfhaut und dem Neocortex hast einpflanzen lassen? Das so superverläßliche Teil, was dich Dinge mit den Gedanken steuern lassen kann? Das schummriges Licht im Wohnzimmer anmacht, romantische Musik auf Spotify sucht und abspielt, den Thermomix bedient, deiner Frau die Tür aufhält, dann für dich die passenden Liebeserklärungen mit Hilfe von LaMDA sucht, die du deiner Frau ins Ohr flüstern kannst – ein Sprachlogarithmus findet immer die richtigen Worte -, und am Ende noch den Aufräumroboter bedient, der die neben dem Ehebett verstreuten Kleidungsstücke einsammelt? Meinst du DEN Sensor?” Hannahs Tonfall ist zänkisch.
“Hannah, jetzt hör’ doch auf, verdammt! Lass’ uns nicht wieder streiten, ich weiß, dass du diesen technischen Kram nicht magst, aber wenn es funktioniert, ist es fantas…”.
“WENN!!”, unterbricht Hannah ihn scharf. “Und wenn nicht, dann fällt dir plötzlich auf, dass du nicht mal mehr einfach mit Topf und Pfanne Spaghetti Bolognese kochen kannst, du ohne die logarithmische Auswertung meiner Spotify Liste gar nicht weißt, welche Musik ich eigentlich mag, du ohne den Sprachroboter nicht mehr die passenden Worte findest und du nicht mal mehr eine romantische Kerze mit Streichhölzern anbekommst, ohne dir die Pfoten zu verbrennen und drei Duzend Hölzer abzubrechen! Wenn es nach dir ginge, hätten wir eh nur noch künstliches Licht. Und jetzt komm’ mir nicht damit, dass Kerzen Brände auslösen könnten!” Hannah redet sich in Rage. “Und jetzt bist du eingesperrt in deiner eigenen Garage! Und lass’ mich raten: du weißt nicht mal, wo sich der einzige manuell bedienbare Schalter befindet, damit du wenigstens was siehst!”
“Hannah. Bitte. Hannah…”, flüstert Leon flehend. Er bekommt langsam Platzangst in der Garage. Es ist tatsächlich stockdunkel, bis auf ein schwach unter dem heruntergelassenen Rolltor hereinfallenden Lichtstrahl. Und er erinnert sich wirklich nicht mehr, wo sich eigentlich der Lichtschalter befindet. Den gibt es überhaupt nur noch deswegen, weil Hannah darauf bestanden hat, dass er trotz Fernbedienung in ihrem Auto und Sensor in Leons Kopfhaut eingebaut wurde.
“Leon, es tut mir leid, ich bin schon auf dem Weg ins Gym, mein Auto steht noch bis abends in der Werkstatt und ich bin zu Fuß unterwegs. Ich laufe gerade von ‘RapideGarage’ zum ‘FastFit’ durch die Marktstraße. Du wirst schon bis 18 Uhr ausharren müssen. Aber mach’ dir keine Sorgen, der Mensch kommt ohne Probleme zwei Tage ohne Wasser und sogar drei Wochen ohne Nahrung aus – Roboter sogar gänzlich ohne!”, fügt sie noch schnippisch hinzu, dann drückt sie auf den “Beenden”-Button des Handys.

Leon lässt verzweifelt den Arm mit der Smartwatch sinken, deren Display ihn im Dunkeln blendet. Er stellt die Taschenlampenfunktion ein, um sich auf die Suche nach dem Lichtschalter zu machen. Der Akku ist fast leer, er hat vergessen, ihn während der Heimfahrt aufzuladen. Es gibt noch einen kurzen Piepton und Leon sieht wieder nur schwarz. Er starrt durch die Dunkelheit auf die Stelle, wo sich das Gerät an seinem Handgelenk befinden muss.
“Auch das noch! Wie soll ich denn jetzt noch jemanden erreichen? Keiner außer Hannah weiß jetzt, dass ich hier eingesperrt bin!”, murmelt er verstört vor sich hin. Das Gefühl, dass jetzt auch noch sein Mobiltelefon versagt hat, treibt ihn an den Rand der Panik. Er fühlt sich alleingelassen. Auch von Hannah, aber seltsamerweise noch mehr von seiner Smartwatch! Wie kann sie ihn gerade jetzt so kläglich im Stich lassen? Er tastet sich durch’s Dunkle. An seinem Auto entlang. Er versucht sich daran zu orientieren. Außenspiegel – trotz autonomen Fahrens gibt es das Ding an seinem Auto noch-, Vordertür, Hintertür, Klappe zum Befüllen der Wasserbrennstoffzelle, Heckklappe. Der Lichtschalter ist sicher in der Nähe des Garagentors. Er sieht das schwache Licht unten durch das Tor scheinen, dorthin muss er sich weiterbewegen, etwas weiter nach rechts noch, da sollte auch die Wand sein.
“Autsch! Fuck! Verdammte Scheiße! Was zur Hölle…!” Schmerzerfüllt spürt er seinen Knöchel, mit dem er gegen irgendetwas Kantiges gestoßen ist. Der Mähroboter.
“Gut, dass wir keine Sicheln und Handmähdrescher mehr benutzen!”, flucht er laut und versucht, sich um das flache Gerät am Boden herumzubewegen, bis er die Wand erreicht hat, um sich von dort weiter Richtung Tor zu bewegen. Er tastet mit der Hand die ganze Wand ab, rauf, runter, in alle Richtungen, bis er endlich den Schalter gefunden hat. Erleichtert drückt er ihn. Sofort gehen die LEDs in der Deckenverkleidung an. Leon atmet auf, als würde das Licht auch seine Lungen mit mehr Luft erfüllen. Er schaut auf sein Auto, das akkurat in der Mitte der Garage parkt, den Mähroboter, über den er gerade gestolpert ist, zur Tür, die in die Wohnung führt, aber die er nicht öffnen kann. Hannah hat einen Schlüssel dafür, den sie immer in ihrem noch von ihr selbst gesteuerten Auto lagert, zusammen mit der Fernbedienung für das Garagentor und das Licht. Jetzt, wo er wenigstens wieder etwas sieht, beruhigt er sich etwas. Er lässt sich auf die Kiste mit den Gartenpolstern sinken, stützt seine Ellenbogen auf den Knien ab und starrt vor sich hin. Jetzt kann er nur warten. Im Auto hat er noch Kekse. Aber da kommt er nicht dran. Sein Blick fällt auf das Getränkeregal an der Rückwand der Garage. Er steht auf und holt sich eine Flasche Saft. Damit kehrt er zu der Kiste zurück und setzt sich wieder. Während er kleine Schlucke aus der Flasche nimmt, verfällt er ins Grübeln.

Hannah und er sind schon immer sehr unterschiedlich gewesen und eigentlich hat das immer den Reiz ihrer Beziehung ausgemacht. Seit sie sich vor zehn Jahren damals im Café des Unicampus kennengelernt haben – er hat sie angesprochen, ob er ihren Snap haben könne, worauf sie ihn anfauchte, er könne höchstens ihre Festnetznummer haben, wenn er noch wisse, was das sei – , war ihre Beziehungen von spannenden Diskussionen getragen, die sie bei mehreren Gläser Aperol bis spät in die Nacht führten. Sie studierte damals Philosophie und Gesellschaftspolitik, während er gerade sein Informatikstudium beendete. Er konnte ihr Stunden von den neuen KI-Erfindungen erzählen, an deren Weiterentwicklung er beteiligt war und noch immer ist, während sie ihn die ganze Zeit skeptisch ansah und ihm dann mit einem Diskurs über “Unverfügbarkeit”, “Sozialen Tunnelblick”, “Solutionismus” und dem Ende der Demokratie konterte. Es war nicht so, dass sie sich nicht für technische Entwicklungen interessierte, sie hatte Befürworter wie Schmidhuber, Gates, Kaku, Hahari usw. gelesen, aber noch mehr Skeptiker: Zuboff, Hofstetter, Precht, Rosa, Morozov, Welzer und viele andere und hatte immer schon einen kritischen Blick auf die digitale Revolution gehabt, während er glühender Verteidiger der sich entwickelnden KI war. Und immer noch ist, auch wenn er gerade durch sie als Gefangener in seiner eigenen Garage sitzt. Wirklich schwierig wurde es zwischen ihnen erst, als sie nach der Hochzeit von seinen Eltern dieses Haus erbten. Sie hätten sich so ein Eigenheim gar nicht leisten können, der Immobilienmarkt ist schon vor über zehn Jahren auf Grund Preiskorrekturen und -stagnation und gestiegenen Zinsen dermaßen unerschwinglich für Normalverdiener geworden, dass man fast nur noch über Erbschaften an eine größere Immobilie kommt. Schon seine Eltern hatten bereits zu der Mittelschicht-Generation gehört, die vor allem durch Erbschaft wirklich reich wurden, während seine Großeltern noch mit dem Geld ihrer Hände Arbeit sich ein Haus hochziehen konnten. Dies ist so ein Haus, in den 1950er Jahren gebaut, seine Eltern hatten es geerbt und grundmodernisiert, – es gab Solarpanels auf dem Dach, es war rundum isoliert, die Gasheizung war seit dem vor zehn Jahren durch den Ukrainekrieg ausgelösten Gaskonflik mit Russland durch eine mit selbstproduziertem Strom versorgte Heizung ersetzt, was aber jetzt auch schon längst nicht mehr zeitgemäß ist. Es ist aber nicht nur das Haus selbst und die technischen Veränderungen, die Leon hier nach und nach anbrachte, es ist vor allem diese eine Sache gewesen: das Experiment mit der digitalen Steuerung in seinem Kopf, oder besser, unter seiner Kopfhaut, die ihre Beziehung in eine echte Krise versetzt hat.

Es ist die neueste Erfindung des Unternehmens, für das er zurzeit arbeitet, und funktioniert wie die schon seit zwei Jahrzehnten immer verbesserten Geräte zur gedanklichen Lenkung von Prothesen über Nerven- anstatt über Muskelimpulse, wie man das vor 30 Jahren noch versucht hatte. Nur steuert diese neue Erfindung nicht Prothesen über Gedanken, sondern ein kleines Fernsteuergerät, das an seiner Brust festgemacht ist, ungefähr da, wo bei Krebspatienten der Port für die Chemo sitzt. So kann er über Sensoren nahe am Gehirn die Fernbedienung steuern, die dann einfache Impulse auslöst: Licht anschalten, Tore und Türen öffnen, sein Auto zünden. Und ja, auch den Thermomix anstellen. Aber die Nahrungsmittel muss man dort dann schon noch selbst hineingeben. Und außerdem ist der Thermomix uralt, der ist noch von seinen Eltern! Eigentlich ein technisches Fossil aus seiner Kinderzeit.
Noch sind es einfache Impulse, die man so gedanklich steuern kann, aber irgendwann werden es größere Leistungen sein. Dieses ist ein erster Prototyp, für die seine Firma freiwillige Tester unter den Mitarbeitern suchte. Natürlich hat Leon sich sofort gemeldet. Aber Hannah ist davon ganz und gar nicht begeistert gewesen.
Es ist kam eine hitzige Diskussion auf, an die Leon nur ungern zurückdenkt. Aber es hat sich seitdem nicht wieder richtig eingerenkt zwischen ihnen.


“Hannah, stell’ dir vor, was uns Mitarbeitern der Abteilung für KI vorgeschlagen wurde!”, so stürmte er vor drei Monaten begeistert nach Hause und zu ihr in die Küche. Er hätte wissen müssen, dass sie nicht so reagieren würde wie er sich das gewünscht hätte. Sie sah ihn starr an, wortlos.
“Du, das ist ein unglaubliches Experiment und ich darf einer der ersten Versuchspersonen sein…”, versuchte er sich murmelnd gegen den stummen Vorwurf zu verteidigen.
“Leon, das ist nicht dein verfickter Ernst. Sag’, dass das nicht dein Ernst ist!” Ihre Stimme klang tonlos. “Du willst dir nicht wirklich Drähte in deinen Kopf machen lassen als seist du ein Roboter!”
“Das ist doch Quatsch, Hannah, nicht IN meinen Kopf, da kommen unter die Kopfhaut winzige Elektroden, die analysieren meine Nervensignale und geben sie weiter an einen Mini-Computer, der diese Impulse in einen Schaltmechanismus umwandelt. Ich kann dann per Gedanken zum Beispiel die Haustür öffnen oder das Licht anschalten. Ich muss das natürlich üben, es…”.
Hannah unterbrach ihn rau: ”Du willst dir Elektronik und Kabel unter die Haut machen lassen? Willst du zum Roboter werden?”
“Nein, aber ich will mich mit Technik verbessern! Mensch, Hannah, das ist die Zukunft, wir haben da schon so oft drüber geredet. Entweder werden uns die Roboter mit ihrer K.I. überholen oder wir optimieren uns selbst mit K.I., so dass wir mit den Robotern Schritt halten können, beziehungsweise ihnen immer einen voraus sind.” Er fühlte sich genervt, ermattet. Wieso musste er mit ihr wieder und wieder diese endlosen Streitereien über das Thema führen? Früher hatte sie das Thema K.I. zusammengebracht, weil sie fetzige Diskussionen darüber geführt hatten, jetzt schien das Thema einen Keil zwischen sie zu treiben.
“Leon, es geht nicht um die Frage, ob ich Posthumanismus oder Transhumanismus vorziehe, ich will beides nicht! Ich will weder Maschinen, die uns überflügeln, noch mich selbst wie eine Maschine optimieren müssen, damit das nicht passiert!”
“Nicht deswegen, sondern weil unser Leben dann besser wird! Kapier endlich, 95% der KI-Forschung hat einzig zum Ziel, unser Leben leichter und besser zu machen – und zu verlängern!” Er konnte nicht verstehen, dass sie das einfach nicht verstand.
“Das glaubst du doch nicht ernsthaft, Leon. Die wollen uns noch mehr vermarkten, ausspionieren, kontrollieren, manipulieren. Außerdem will ich nicht noch länger leben als man es jetzt tut! Die Menschen werden heute schon fast 100, das reicht völlig! Ewig leben ist eine Strafe, kein Geschenk!”
“Mann, Hannah, wer ist ‘die’? Momos dubiosen grauen Männer, die unsere Zeit als Zigarren rauchen, oder wer?” Er versuchte es mit Sarkasmus. Darauf ließ sie sich aber nicht ein, sie wusste so gut wie er, dass genau diese Diskussion sie nicht weiterbringen würde. Nie weitergebracht hat. Sie sind darüber grundsätzlich diametraler Ansichten. Über die Folgen der KI, über die Gefahren der Demokratie ja oder nein, über den möglichen Missbrauch von KI, – grundsätzlich über die Fähigkeit des Menschen, mit so einer Technik umzugehen im Speziellen und über den Reifegrad der modernen Menschheit im Allgemeinen.

“Leon, ich will einfach nicht mit einem Cyborg verheiratet sein, mit implantierten Elektroden und Geräten im Körper!” Hannah startete einen neuen Versuch.
“Na, hör mal, ein Herzschrittmacher ist auch Elektronik im Körper, das akzeptierst du doch auch! Du würdest mir nie sagen: Leon, kein Herzschrittmacher, verreck’ lieber, wenn du einen Herzfehler hast – zumindest hoffe ich, dass du mir das nicht sagen würdest.” Leon versuchte ein versöhnliches Lächeln.
“Das ist was komplett anderes”, konterte sie, “das heißt, nein, eigentlich hast du Recht, das ist an sich auch schon strange genug! Aber das braucht ein Herzkranker zum Überleben. Aber eigentlich ist es gruslig, so ein Gerät im Körper zu haben, genauso wie die künstlichen Nieren aus dem 3D-Drucker, die sie jetzt wie am Fließband herstellen. Ebenso die Nanoroboter, die sie ferngesteuert durch die Blutgefäße sausen lassen.”
“Früher haben die Menschen jahrelang auf eine Spenderniere gewartet und sind darüber krepiert. Und gerade du warst immer gegen Organspende wegen der Informationen, die in jeder lebenden Körperzelle enthalten sind und solltest erleichtert sein, dass es jetzt künstliche Organe gibt, ohne Zellen mit DNA von anderen Menschen. Und was die DNA-Origami angeht: Sie hat deiner Mutter das Leben gerettet! Ohne die Thrombin-DNA-Nanoroboter wäre sie an ihrem Krebs vermutlich gestorben!”
“Das weiß ich! Ich finde es trotzdem gruselig. Ja, es hat sie gerettet, das stimmt. Du aber lässt dich aus Jux und Tollerei verkabeln, ohne krank zu sein. Die ganze Technik ist unsinnig, verrückt – und dient letztendlich nur weiterhin dazu, uns noch mehr auszuspionieren, als sie das eh bereits seit Erfindung des Internets tun! Noch sind es lediglich deine harmlosen Gedanken, wie eine Lampe anschalten zu wollen, die du bewusst an den Apparat schickst, aber irgendwann zapfen sie dir all’ deine Gedanken ab! Und außerdem: Was in eine Richtung geht, geht irgendwann auch in die andere: nicht nur deine Gedanken gehen zum Computer, irgendwann geht es auch andersherum: man wird Gedanken von außen in deinen Kopf schicken und dir suggerieren, es wären deine Gedanken! Damit kann man irgendwann die Menschen komplett manipulieren.” Hannah sah ihn an, als habe sie einen Verrückten vor sich: “Verdammt, macht dir das keine Angst, Leon?”
“Aber wir können dann vielleicht auch mal unsere Gedanken direkt an andere weitergeben, Hannah. Wolltest du nicht immer schon mal wissen, wie es sich anfühlt, wie jemand anderes zu denken? Zu wissen, wie es in den Köpfen anderer Menschen aussieht?” Leon schaute sie zustimmungsheischend an. Hannah starrte ihn mit fassungslosem Gesicht an. Dann quetschte sie raus: ”Nein…!”
Es wurde still zwischen ihnen. Leise murmelte Hannah, kaum ihre Tränen unterdrückend: “Nein, Leon, das will ich nicht. Meine Gedanken gehören mir, nur mir allein. Und immer schon war es für mich das, was mich in dieser Welt am meisten beruhigt hat: dass man mir alles, alles nehmen kann, nur nicht meine ganz eigenen Gedanken. Sie gehören nur mir und keiner kann sie kennen und keiner soll sie kennen. Keiner kann in meinen Kopf sehen, kein Nazi-Regime, kein unterdrückender Kontrollstaat, kein Chef, nicht mein Partner, nicht meine Eltern Keiner! Und das hat was ungemein Beruhigendes. ” Sie schluckte.
“Aber fühlst du dich nie einsam mit deinen Gedanken?” Leon sah sie bestürzt an. “Hast du nie das schreckliche Gefühl, dass andere dich nie verstehen, dass du dich nie so richtig jemanden mitteilen kannst, dass du dem anderen immer irgendwie fremd zu bleiben scheinst, und er dir? Damit könnte man endlich mal so mit jemanden zusammenwachsen, dass man fühlt, was der andere fühlt. Und sich endlich mal verstehen und sich weniger einsam fühlen!”
“Und du glaubst, dass das die Kommunikation mit anderen Menschen einfacher machen wird? Glaubst du das wirklich? Und dass du dich dann weniger einsam fühlen würdest?” Völlige Ungläubigkeit lag in ihrem Blick.
“Natürlich! Worte und Gesten schaffen es nie, sich dem anderen wirklich nahe zu fühlen. Immer bleibt der andere einem fremd. Ich habe immer den deprimierenden Eindruck, an den versteckten Gedanken des Gegenübers abzuprallen wie ein Tennisball von einer Wand. Genauso wie Senthuran Varatharajha das mal in seinem Buch “Rot” beschrieben hat – erinnerst du dich? Ich wollte immer, dass du es mal liest. Er spricht genau aus, wie es mir auch immer geht.”
“Du willst mich zerstückeln und auffressen?” Jetzt war es an Hannah, sarkastisch zu werden und genau wie er war sie dabei wenig überzeugend.
“Quatsch, er hat das Verbrechen doch nur als Aufhänger genommen. Nein, er beschreibt genau diese Einsamkeit, die man empfindet, weil man einem Menschen nie so nahe sein kann, wie man das möchte und je mehr man jemanden liebt, umso mehr empfindet man die Trennung und Distanz zwischen sich. Allein bereits die unterschiedlichen Körper trennen einen. Sie sind wie eine Barriere, die einen hindern, mit dem anderen zu verschmelzen.” Leon fühlte sich plötzlich müde und einsam. “Ich hätte wirklich gern gehabt, dass du das Buch mal liest, aber du hast es immer abgelehnt, das Thema würde dich nicht interessieren, hast du erklärt”, sagte er traurig und Hannah spürte plötzlich seine ganze Enttäuschung darüber wie ein Schlag ins Gesicht. Hat sie, die sich immer für so sensibel, feinfühlig und psychologisch versiert gehalten hatte, nie gespürt, wie es in Leon wirklich aussah? Welchen Seelenschmerz er mit sich herumtrug, vermutlich immer schon? Plötzlich kam sie sich erbärmlich, egozentrisch, blind, überheblich, verblendet vor. Sie war wohl doch nicht die große Psychologin und Philosophin, für die sie sich hielt.

“Und du glaubst, wenn du Dank der KI dich mit den Gedanken und vielleicht sogar mit den Gefühlen anderer Menschen verbinden kannst, dann könntest du diesen Eindruck der Trennung, des Getrenntseins überwinden?”, fragte sie ihn leise. Sie fühlte den Impuls, ihn in den Arm nehmen, unterdrückte ihn dann aber wieder. Gefühlvolle Gesten fielen ihr immer schwer.
“Ja…vielleicht.”, sagte er noch leiser.


Leon hat inzwischen fast die ganze Flasche Saft ausgetrunken, während er auf der Kiste mit den Gartenpolstern sitzt und darauf wartet, dass Hannah nach Hause kommt und ihn mit ihrem archaischen Schlüssel aus der Garage befreit. Die Fernbedienung würde es auch tun, vorausgesetzt, die Batterien sind nicht leer.
“Die Technik macht es einem leichter, aber auch unfreier. Da hat Hannah Recht”, denkt Leon. Alles toll, wenn der Knopf funktioniert, um das Autofenster herunterzufahren, aber wehe, er geht kaputt, dann sehnt man sich nach der Handkurbel. Das hatte sein Vater immer gesagt. Er selbst kennt Autos mit Fensterkurbeln gar nicht mehr, auch keine Kassettenrekorder, mit denen man in den 1970ern stundenlang vor dem Radio saß und versuchte, Musikstücke in grottenschlechter Qualität mitzuschneiden, die rein zufällig liefen, ohne dass man vorher wusste, dass sie gespielt werden würden. Auch davon hat sein Vater erzählt. Wie seltsam kommt Leon das vor. Er kann sich das nicht vorstellen, aber er begreift, was der Philosoph Hartmut Rosa schon in den 2020er Jahren meinte, als er von dem Reiz des Unverfügbaren redete. Wenn man weiß, was passiert, oder es sogar gewollt hervorrufen kann, dann verliert es seine Spannung.
“Dass ich jetzt hier sitze und nicht in meine Wohnung komme, an einer zufällig gefundenen Flasche Apfelsaft rumnuckele, dabei unbequem in der Garage auf einer Kiste sitze, anstatt auf meiner gemütlichen Wohnzimmercouch bei einen Glas Wein und mir von Alexa genau mein von ihr gekanntes Lieblingsstück vorspielen zu lassen, das ist doch unvorhergesehen! Alles von der KI beschert, ohne sie wäre ich jetzt nicht hier! So wollte ich das nicht, das war so nicht geplant, aber die KI hat mich dahin gebracht! Ins Unvorhergesehene, wie Rosa das will! Aber ich finde, das hat überhaupt keinen Reiz…”, denkt Leon pampig. Irgendwie spürt er zwar, dass es nicht das ist, was Hartmut Rosa meinte, aber es tröstet ihn. “Die KI ist nicht schlecht!”, sagt er laut in die Stille der Garage. “Schlecht ist, was der Mensch draus macht!”, hört er sofort Hannah wie in ein Echo in seinem Kopf.
“Ist der Mensch nicht in der Lage mit seinen Erfindungen umzugehen?”, fragt sich Leon. “Hat Hannah Recht? Wächst es ihm über den Kopf? Missbraucht er sie früher oder später, auch wenn die Väter der Erfindung es eigentlich ‘gut’ gemeint haben? Natürlich steckt die KI auch in Waffen. In Geräten, die Menschen wegen ihres Konsumverhaltens ausspionieren oder den “Feind des Landes” über Geheimdienste. Aber auch in so vielen lebensspendenden medizinischen Geräten. Es macht das Leben wirklich so bequem. So viel einfacher. So viel spannender. Auch Hannah wollte weder auf Navi, noch ihre ganzen Life-style Apps verzichten und auch sie begrüßt das aus Stammzellen hergestellte Fleisch, das die unmenschliche Quälerei der Massentierhaltung heutzutage bald völlig unnötig macht. Auch sie steht im Widerspruch zwischen Anspruch und Sorge, zwischen Verteufelung und Nutzen der modernen Welt. Das Klima ist Opfer der Technik und gleichzeitig wird es gerade über die Technik gerettet. Aber natürlich: hätte unser modernes Leben es nicht verändert, müssten wir es nicht wieder herstellen.”
Leon weiß einfach nicht mehr ein noch aus. Hannah hat in so vielem Recht und in so vielem Unrecht.
“Aber haben wir eine Wahl? Der Schriftsteller Robert Musil schrieb mal, dass es in der Geschichte der Menschheit kein freiwilliges Zurück gäbe. Die Entwicklung der KI ist zwangsläufig. Es ist wie Schicksal, wir können es nicht ändern, es ist wie eine natürliche Evolution. Wir müssen uns anpassen, das Beste draus machen”, denkt Leon, fast verzweifelt und es fühlt sich an wie eine Rechtfertigung für etwas, was er eigentlich auch gar nicht ändern will. Und sich auch nicht in der Lage fühlt, verändern zu können. Ein Gefühl von Ohnmacht beschleicht ihn.

Plötzlich hört er ein Knacken. Der Lichtstrahl, der kaum sichtbar durch den Schlitz zwischen Boden und Tor gefallen ist, wird langsam immer größer und heller: jemand öffnet die Garage. Leons Herz und er selbst machen ein Sprung, endlich holt Hannah ihn hier raus. Er hat zwar erwartet, dass sie durch’s Haus in die Garage käme, aber so geht es natürlich auch. Geblendet blinzelt er nach draußen. Das ist nicht Hannah, außer sie ist plötzlich einen halben Meter größer, massig und breitschultrig wie sein Kollege Alex geworden.
“Alex, bist du das? Wo kommst du denn her und wie zum Teufel…?” Leon starrt seinen Kollegen aus der IT-Abteilung erstaunt an.
“Hi Leon, na, ein Elektrodenproblem? Das mit der Störanfälligkeit müssen wir wohl noch ausmerzen. Da dachten wir, wenn man die Sensoren implantiert, anstatt mit kapazitiven Sensoren in der Kleidung zu hantieren und sie mit entsprechenden Logarithmen versieht, die Gedankensignale von Störimpulsen unterscheiden, würde es besser klappen, aber da müssen wir wohl doch noch mal dran.” Alex grinst ihn an. Alex ist mit einer permanent guten Laune ausgestattet, er scheint von morgens bis abends von einem dopamingetriggerten Begeisterungsmodus angetrieben zu sein.
“Wie hast du die Garage aufbekommen? Hast du dir die Fernbedienung von Hannah geholt?” Leon möchte jetzt nicht über die technischen Details seiner Elektroden reden.
“Nein, brauchte ich nicht – ich habe es mit meinen Sensoren geschafft, das Tor zu bedienen, vermutlich kann ich mit meinen Gedanken auch bei euch im Haus das Licht anmachen und deine Lieblingsmusik abspielen lassen.” Alex quecksilbriges Lachen hallt in der nun offenen Garage wider. Betreten sieht Leon Alex an: “Auch das müssen wir dann offenbar noch mal fixen. Da fehlt es noch an zielgerichteten Impulsen. Dass jeder jede über die Sensoren gesteuerte Tür aufbekommt, ist ja nicht im Sinne des Erfinders.”
“Nein”, lacht Alex. “Aber alles gut bei dir? Du siehst frisch und munter aus, etwas verstört vielleicht. Hannah hat mich übrigens angerufen und mich gefragt, ob ich versuchen kann zu helfen. Sie hat ihr Auto doch noch nicht aus der Werkstatt bekommen. Es gibt keine Ersatzteile mehr für ihren mit dem alten Verbrennungsmotor laufenden Wagen. Wann will sie endlich mal umsteigen? Wenn schon nicht auf Wasserstoffangetriebenes, dann doch wenigstens auf ein älteres Elektroauto?”, fragt Alex.
“Du kennst ihre Meinung. Elektroautos hält sie aus umweltschutztechnischer Sicht für Humbug und dem Wasserstoff traut sie noch nicht. Wie kommt sie jetzt nach Hause? Ich kann sie nicht holen, ich komme nicht in mein Auto rein, ich müsste erst den Pieper aus dem Haus holen – in das ich aber auch nicht komme.”
“Du solltest dich nicht nur auf unser System verlassen, Leon, das ist noch nicht ausgereift. Ich habe immer auch meinen Autoschlüssel dabei, für den Fall, das was schiefläuft.” Sie gehen gemeinsam zum Haus, vielleicht bekommt Alex ja auch die Haustür auf.
Alex plappert dabei munter weiter: “Hannah macht einen Fehler, es wird irgendwann kein Benzin mehr geben, überhaupt macht es keinen Sinn, an den alten Dingen festzuhalten. Glaubst du, dass mein Onkel noch immer seine ganzen CDs aufbewahrt, obwohl es kaum noch CD-Spieler auf dem Markt zu kaufen gibt? Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten, man muss sich anpassen. Keiner hat eine Wahl.”
Leon beschleicht wieder dieses unbestimmte Gefühl des Unabwendbaren: “Gibt es wirklich kein freiwilliges Zurück in der Menschheitsgeschichte und in der mit ihr verbundenen technischen Entwicklung? Hatte Musil Recht? Sind Vorstöße, wie sie mal Harald Welzer formulierte, dass wir Menschen endlich eine Kultur des Aufhörens entwickeln müssten, damit wir uns als Menschen nicht selbst ausrotten, illusorisch? Seitdem wurden die kritischen Stimmen zu dem “Weiter, höher, schneller”, dem “permanenten Wachstum” immer lauter und lauter. Hat Hannah Recht, dass alles auf einen gefährlichen Kippunkt hinsteuert und irgendwann zusammenbrechen muss? Weil das Ende der Fahnenstange einfach erreicht wird?” Leon überlegt kurz, ob er mit Alex diese Gedanken teilen soll, aber eigentlich weiß er, dass er da bei Alex an der falschen Adresse ist. Für ihn ist technischer Fortschritt per se immer positiv und ihn beschleichen nie Zweifel darüber. Soweit Leon weiß, hat Alex sich auch noch nie kritische Bücher oder Dokus zur digitalen Entwicklung zu Gemüte geführt. Manchmal beneidet er Alex für seine Lebenseinstellung, offenbar völlig frei von tiefgreifenden Zweifeln und Fragen.
“Eigentlich seltsam, dass du dir eine Frau wie Hannah gesucht hast, die so eine Gegnerin von Fortschritt ist”, redet Alex nach einer kurzen Pause, in der er versucht hat, mit seinen Gedanken Hannahs und Leons Haustür aufzubekommen, was aber nicht klappt, weiter.
“Mist, es geht nicht”, murmelt Alex.
“Sie ist nicht gegen Fortschritt”, verteidigt Leon Hannah, “sie sieht in Fortschritt nur etwas anderes als wir. Sie definiert ihn anders…”. Leon starrt dabei die Tür an, auch seine Gedanken öffnen sie einfach nicht.

“Hi ihr beiden, meditiert ihr vor der Eingangstür? Woran unterscheidet man einen Guru von einem IT-ler? Der eine konzentriert seine Gedanken auf sein inneres Selbst, der andere auf Türen und Lichtschalter, der eine will Weisheit erlangen, der andere sich zum Narren machen!”, hören sie jemanden rufen. Leon und Alex drehen sich abrupt um und sehen Hannah auf einem gemieteten E-Scooter auf sie zukommen. Diese Dinger waren eine Zeit lang ein wahrer Boom, inzwischen geht der Hype aber stark zurück, es rentiert sich nicht, weil die Teile zu teuer sind und der Vandalismus immer größer wird. Der, auf dem Hannah jetzt angefahren kommt, sieht auch schon reichlich ramponiert aus. Wer weiß, aus welchem Graben sie ihn sich gefischt hat.
Die Begrüßung zwischen Hannah und Leon fällt von ihrer Seite eher kühl aus, von seiner zerknirscht. Hannah und Alex begrüßen sich mit einem Fist Bump, einer Geste, die in der Pandemiekrise 2019 in Mode kam. Alle drei sind Teil der ehemals jungen “Generation Covid-19”: Abitur unter Lockdown-Bedingungen und sonstigen Corona-Maßnahmen. Seit dieser Zeit kennt auch jeder das Wort “Zoonose”, die es an sich ja aber immer schon gab. Nach dem Coronavirus kamen die Affenpocken, dann das Lassa-Fieber aus Afrika und jetzt geht der asiatische Nipah-Virus um, der unter anderem auf Schweine übergeht, aber auch über Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen wird und der wegen der Schwere der Folgen sogar Hannah Sorge bereitet, die sonst mit Infektionserregern eher gechillt ist. Nipah-Viren lösen eine schwere Enzephalitis aus, Gehirnentzündung, und das führt bei einem erschreckend großen Prozentsatz von Menschen zum Tode. Alex dagegen hat seit Covid-19 grundsätzlich eine enorme Furcht vor der Unkontrollierbarkeit von Krankheiten entwickelt. Viren und sonstige Erreger sind etwas, das sich mit Algorithmen und Statistiken nicht managen lässt, das hatte schon die Corona-Krise deutlich gezeigt und das macht Alex Angst und mit jeder weiteren sich ausbreitenden Infektionskrankheit wird diese Angst neu getriggert. Er hat zu Hause den ganzen Medikamentenschrank voll mit erhältlichen Schnelltests gegen alle erdenklichen Krankheiten seit Corona.

Während Leon sich nun endlich seinen feierabendlichen Wein auf dem Sofa gönnen kann und mit Alex bei seiner von Alexa abgespielten Lieblingsmusik über die Fehlleistungen ihres Experiments fachsimpeln, verschwindet Hannah auffällig lange im Badezimmer.


Hannah hört die Stimmen von Leon und Alex nur noch wie durch Watte im anderen Teil des Hauses. Sie steht im Bad vor dem Spiegel, klammert sich mit der einen Hand am Waschbecken fest, als müsse sie sich dringend abstützen, in der anderen hält sie einen Plastik-Teststreifen. Der zweite Strich neben dem blauen Kontrollstreifen ist zwar blasser, aber eindeutig zu erkennen. Zweifelsfrei ein positiver Test. Ihr dreht sich alles. Sie hält sich jetzt auch mit der anderen Hand am Waschbecken fest. Positiv. Der Test ist positiv.

Es ist nicht der Schnelltest für den Nipah-Virus oder das Lassa-Fieber, den sie in der Hand hält, sondern ein Schwangerschaftstest. Hannah will keine Kinder. Nicht, weil sie grundsätzlich keine mögen würde, im Gegenteil: sie möchte es keinem Menschen antun, in diese Welt gesetzt zu werden, dem man es durch seine Nicht-Zeugung ersparen kann.

Letztes Jahr ist der letzte Gletscher in deutschen Alpen abgeschmolzen. Die Erwärmung ist bereits um 0,3 Grad in der letzten Dekade gestiegen. Im Pariser Abkommen, das 2020 in Kraft getreten ist, hatte das Ziel noch mit 1,5 Grad festgelegt worden – das hat man bereits jetzt überschritten und die ICCP sagt für die nächsten Dekaden einen noch höheren Anstieg voraus. Die Erderwärmung steigt nicht linear, sondern exponentiell an, die Folgen machen sich immer schlimmer bemerkbar. Europa ist reich, noch kommt man hier irgendwie klar, auch wenn alle jammern und klagen.
Der Flüchtlingsstrom aus anderen, weniger privilegierten Ländern hat dagegen noch rasanter zugenommen: Entweder ausgelöst durch die immer häufigeren und schlimmeren Folgen des Klimawandels oder durch die stetig steigende Anzahl an Kriegen um Ressourcen. Das wiederum hat parallel einen zunehmenden Rechtsdruck in den europäischen Ländern ausgelöst. Die Angst der Menschen in Europa steigt und steigt. Wenn Hannah an die diesjährig stattfindende Bundestagswahl denkt, wird ihr schlecht. Bereits jetzt ist die DPSF – die “Deutsche Partei für Sicherheit und Freiheit”- , die sich 2027 neu aus zum Teil ehemaligen AFDlern formiert hat und sich zwar liberal-freiheitsrechtlich gibt, aber im versteckten Kern eigentlich rechts-faschistisch ist, Teil der aktuellen Koalitionsregierung. Sie hat einen rasanten Aufstieg hingelegt, und schon zur Wahl im Herbst 2029 hatte sie so viel Stimmen, dass CDU und FDP mit ihr koalieren mussten, um zu regieren. Die DPSF steht für Protektionismus, strenge Flüchtlingsrepression, die hingeht bis zu einem Polizeistaat, Überwachung der Bürger “im Namen der Kriminalitätsbekämpfung durch eingewanderte Individuen”, über rhetorische Verdrehung im Sinne von “Grundrechtsverteidigung”, um eine starke staatliche Lenkungspolitik zu rechtfertigen. Umweltschutz steht dabei ganz unten auf der Liste, Umweltgesetze dazu werden als “wohlstandsfeindlich” angesehen. Die “Diktatur des Umweltschutzes, der dem Bürger seine verfassungsrechtlichen Freiheiten und seinen Wohlstand nehmen will” ist einer der führenden Slogans der DPSF im Wahlkampf gewesen und ist es in diesem wieder. Auch in den anderen europäischen Nachbarländern erstarken die Rechtsparteien. Hannah macht die inner-politische Entwicklung große Sorge, genau wie die internationale geo-politische Lage: Der Ukrainekrieg 2022 hatte zwei Jahre gedauert. Putin hatte dieses Kriegstreiben noch überlebt, nach seinem Tod kamen in Russland, wie von Kreml-Kennern bereits vorher schon befürchten wurde, Putins Hintermänner an die Macht, die kaum besser sind als er. Mit China und Indien als starke Verbündete, einzelnen Staaten in Südamerika, ganz vorneweg Brasilien, wo Bolsonaro das ewige Leben zu haben scheint und sich unverdrossen an der Macht hält, obwohl er auf die 80 zugeht, einigen Ländern Osteuropas und in Afrika, unter anderem Mali und Eritrea, hat sich ein politischer Machtblock entwickelt, der in einer ganz neuen geopolitischen Formation von kaltem Krieg dem “Westen” gegenübersteht. Man kann nicht mehr von “Osten” reden – und eigentlich auf der Gegenseite auch nicht mehr von “Westen”. 2024, gegen Ende des Urkainekriegs, wäre es fast zu einem Atomkrieg gekommen, es stand auf Messers Schneide, wie schon ganz früher öfter mal. 1995 beim Black Grant Scare. Oder 1983, bei einem Nato-Manöver mitten im Kalten Krieg. Oder 1962 während der Kubakrise. Würde es ein weiteres Mal gut gehen? Der Kampf um natürliche Ressourcen, nicht nur die Klassiker wie Erdöl, Gas, Platin, Gold und Kupfer, sondern zunehmend auch die “Gewürzmetalle” wie Indium, Tantal, Lithium oder Palladium, alle wie Kobalt und seltene Erden unentbehrlich für Handys, Flachbildschirme und Brennstoffzellen – werden heiß umkämpft und lösen schwere Konflikte aus, dabei nicht zu vergessen die ganz “banalen” Ressourcen wie Wasser und Sand! Und anstatt, dass sie zusammenhalten, zerstreiten sich die EU-Länder mehr und mehr. Von einer funktionierenden Gemeinschaft kann eigentlich schon lange nicht mehr die Rede sein. So dass viele schon über eine Auflösung diskutieren und eine völlige Neuauflage in Betracht ziehen. Leon sieht darin eine große Chance, Hannah zweifelt das an, nach dem Motto: Never change an operating System, vor allem nicht mitten im vollen Lauf. Die UNO ist nur noch ein Gespinst ihrer selbst. Lediglich die Nato funktioniert noch und rüstet ordentlich auf.

Hannah starrt auf den Schwangerschaftstest: ”Ich kann kein Kind dieser untergehenden Menschheit beifügen! Ich will es nicht, ich schaffe es nicht”, flüstert sie. Sie fühlt eine ohnmächtige Verzweiflung in sich hochkommen. Altbekannten Gedanken kommen wieder hoch: “Die Menschheit ist mir eigentlich noch egal, dann soll sie halt aussterben, wenn sie nicht in der Lage ist, sich selbst zu erhalten. Dann ist sie eben eine Fehlleistung der Natur gewesen, wie der Riesenhirsch mit seinem überproportionalen Geweih.” Für Hannah hat der Mensch keinen besonderen Platz in der Evolution, er ist ein Tier mit einem Gehirn, das kein anderes Tier bisher entwickelt hat. Aber das rechtfertigt für sie nicht eine Sonderstellung. Sie ist da ganz Biozentrikerin. Die Natur braucht den Menschen nicht, nur der Mensch die Natur. Albert Schweitzer hat das auf den Punkt gebracht: “Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will”.
“Wir wollen die Natur auch nicht um ihrer selbst retten, sondern nur die Menschheit.”, murmelt Hannah vor sich hin, “wenn es den Menschen nicht mehr gäbe, gäbe es die Natur noch immer – nur verändert. Viele Arten wären ausgestorben, die Atmosphäre hätte sich verändert, die klimatischen Verhältnisse auch, aber es kämen neue Arten, an die anthroposophisch-veränderten Bedingungen angepasst. Aber der Mensch kann ohne eben diese Natur, genauso, wie sie jetzt ist, nicht überleben. Wenn der Mensch die Natur grundlegend verändert, wird er aussterben, nicht die Natur oder gar die Erde zu Ende gehen. Sie wird dann nur anders aussehen und sich wieder neu, bloß anders entwickeln”. Hannah sieht das ganz losgelöst vom Menschsein.
“Keiner schert sich um den Menschen, nur der Mensch selbst. ”, denkt sie und umschließt den Test so fest mit der Faust, dass das scharfkantige Plastik sich in ihre Haut bohrt und ihr fast die Tränen kommen. “Aber wenn man ein Kind hat, dann kann es einem nicht mehr egal sein, wie es morgen auf der Welt aussieht, wenn es Krieg gibt, ob Deutschland rechtsradikal wird, dass der Klimawandel die Erde zu einem unwirtlichen Ort macht – dann denkt man immer nur an sein Kind, das in dieser Welt bestehen muss. Die Sorge um die Zukunft bekommt einen emotionalen Druck, dem man sich dann nicht mehr entziehen kann”. Sie lockert den Griff und fühlt alle Kraft aus sich weichen.

“Leon! Leon mit seiner blöden KI!”, schießt es Hannah plötzlich durch den Kopf. “Als ob die den Klimawandel oder gar Kriege verhindert, je verhindert hätte! Im Gegenteil! Ressourcenausbeute, Energieverbrauch der enormen Rechner, immer raffiniertere Kriegswaffen, wo selbst ein Kind mit Knopfdruck eine gigantische Zahl von Menschenleben ausrotten kann. Wofür ist sie gut, die KI!” Hannah beißt die Zähne zusammen, sie fühlt eine seltsame Wut auf den Miterzeuger dieses Zellhaufens, der sich in ihrem Bauch eingenistet hat.
“Wo ist dieser verdammte Fortschritt, den uns die KI gebracht hat?” will sie laut herausschreien, aber es kommt nur leise und gepresst durch ihre Lippen. “Die Taliban und die Boko Haram kommunizieren über KI, im Nahen Osten töten immer ausgefeiltere amerikanische Drohnen Menschen, deutsche Kriegswaffentechnik wird da eingesetzt, wo Europa gar nicht kriegsbeteiligt ist, verhungern und sterben in Entwicklungsländer die Menschen in bitterer Armut, vielleicht mit einem Handy in der Tasche – aber ohne Wasser!”

Plötzlich feuert sie den Test in die Ecke, reißt die Badezimmertür auf, schnappt sich ihre Joggingschuhe und zieht sie über, läuft aus dem Haus und rennt die Straße hinunter in den Park. Sie läuft und läuft. An der alten Dame mit ihrem Redtriever vorbei, der sie sonst morgens begegnet, wenn sie ihre Morgenrunde joggt und die ihr jetzt verwundert hinterhersieht. Einer Gruppe Jugendlicher, die auf einer Parkbank hängen, jeder mit irgendwelchen Endgeräten und Aluminiumdosen in der Hand, ruft sie zu: “Bewegt euren Arsch, hört mit dem Scheiß-Rumgehänge auf! Rettet diese Welt! Wenn nicht ihr, wer dann?” und erntet damit spöttische Bemerkungen und hochgestreckte Mittelfinger. Sie läuft Slalom um Hundescheißhaufen und wird fast von einem E-Bike zerlegt, das um die Ecke gerast komm.

Sie und Leon, sie sind zu unterschiedlich! Sie haben ein völlig unterschiedliches Weltbild. Er glaubt an das Gute im Menschen, ist fest überzeugt, dass alles irgendwie besser werden wird, dass die Technik früher oder später die Lösungen bringen wird. Sie dagegen glaubt, dass der Mensch, so wie er ist, nur ein Vorlaufmodell der Evolution sein kann, ein verunglückter Prototyp und früher oder später verschwinden muss, dass alles irgendwie schlimmer wird, und dass die Technik erst die Probleme schafft, für die es nun dringend Lösungen braucht.
Sie vertritt eine biozentrische Umweltethik, er ist Anhänger eines klar anthropozentrisch orientierten Umweltschutzes.
Er fühlt sich einsam, sehnt sich nach einer Art von Nähe, die es zwischen Menschen so nicht geben kann, sie braucht ihre eigene innere Welt, gut geschützt vor anderen. Diametraler geht es kaum.

Und er will Kinder, sie nicht. Und jetzt ist sie schwanger, ungewollt. Das Antibiotikum, das sie letzten Monat wegen eines schweren Niereninfektes nehmen musste, hat wohl die Wirkung der Pille beeinträchtigt. Sie hat sowieso einen Brast auf diese tägliche Hormoneinnahme, aber sie wollte unbedingt eine Schwangerschaft verhindern! Und jetzt ist es doch passiert. Hannahs Lungen fangen an zu brennen. Sie rennt auch nicht rhythmisch wie beim Joggen, es ist mehr ein kreuz und quer Laufen, je nach Gedanken passt sie ihr Tempo an: Wut, Traurigkeit, Verzweiflung, Angst, Sorge, Hilflosigkeit. Alles purzelt in ihr durcheinander. Parallel rechnet sie aus, wann der Zeitpunkt der Zeugung war und bis wann sie abtreiben kann, überlegt, ob sie Urlaub bekommen wird und dann fällt ihr mit Schrecken ein, dass ihre Gynäkologin jetzt drei Wochen Urlaub hat! Sie bleibt abrupt stehen. Keucht, sie atmet heftig, stützt sich mit den Händen auf den Knien ab und versucht, wieder zu Atem zu kommen.
“Scheiße, Scheiße. Scheiße!!! FuckFuckFuck!”, hämmert es in ihrem Kopf. “FUCK!” brüllt sie plötzlich laut heraus und ein Mann mit grauem Anzug und altmodischem Undercut, der gerade hinter ihr langläuft, fährt in sich zusammen. Tränen schießen ihr in die Augen.


Als sie verschwitzt und verweint nach Hause kommt, ist Alex bereits weg und Leon hält ihr den Test hin, mit sehr sorgenvoller Miene. Als er ihr verheultes Gesicht sieht, wird ihm richtig übel.
“Hannah, was ist das für ein Test? Hast du Nipah? Das muss nichts heißen, Hannah, man kann das auch überstehen, viele haben das auch ganz und gar wieder auskuriert, glaub’ mir, wir…”.
“Leon, das ist ein Schwangerschaftstest!”
“Was? Du bist…?”
“Ja!”, gibt Hannah gewollt-kaltschnäuzig zurück. Dann fängt sie plötzlich wieder an zu weinen. Leon ist völlig aus der Bahn geworfen, zieht sie in den Arm, was sie sich ausnahmsweise willenlos gefallen lässt. Sie vergräbt ihr Gesicht in seiner Halsbeuge mit dem prominenten Schlüsselbein – wie sie ist er sportlich und durchtrainiert, zumindest da ähneln sie sich – und heult und heult und heult. Sie weint auch ihre ganze Zukunftsangst aus sich heraus, ihre ständige Anspannung, die durch die täglichen Nachrichten, Berichte, Studien, Dokumentationen, ihren eigenen Beobachtungen in der Natur und der Menschen immer mehr zunimmt. Als Gesellschaftswissenschaftlerin an der Uni beschäftigt sie sich auch Tag für Tag damit, sie hat alles angesammelt wie ein stetig schwerer wiegender Ballast und hat selbst gar nicht gemerkt, wie es sie zunehmend herunterdrückt, dass sie kaum noch frei atmen kann.
“Du,…du,…wolltest doch kein Kind”, wagt Leon einen Vorstoß.
“NEIN!”, schreit sie aus seiner triefend-nass vollgeheulten Halsbeuge. Sie hatten das Thema schon so oft durch.
“Und jetzt?”, fragt er leise. Hannah antwortet nicht.
“Be…behalten wir es?”, fragt Leon noch leiser, so leise, dass Hannah es kaum hören kann.
“NEIN!” brüllt Hannah wieder und gräbt ihr Gesicht noch tiefer in Leons Hals. Er drückt sie ganz sanft an sich. Er hat nie Probleme mit gefühlvollen Gesten gehabt, aber Hannah lässt es selten zu. Er kneift die Lippen zusammen. Er hätte sich sehnlichst ein Kind gewünscht. Vielleicht hofft er, dass er zu dem Kind die Nähe aufbauen kann, die er nie zu einem anderen Menschen so hat herstellen können. Vielleicht ist es aber auch nur ein ganz natürlicher Instinkt nach Elternschaft, nach Fortpflanzung, die Sehnsucht nach der ganz besonderen Art von Liebe, die man so nur zu seinem Kind hat. Die einzige Liebe, die garantiert das ganze Leben besteht.
“Nein”, murmelt Hannah nochmal. Sie wird still, hört jetzt auch auf zu weinen.
“Glaube ich zumindest nicht”, flüstert sie, “ich glaube, es wäre nicht gut”. Ihr Flüstern ist jetzt fast tonlos.
“Wer soll unsere Welt retten, wenn nicht unsere Kinder?”, liegt es Leon auf der Zunge. Aber er sagt es nicht. Er kennt Hannah. Es ist besser, er sagt jetzt gar nichts. Wartet ab. Er spürt eine Veränderung in ihr vorgehen.


Leon legt sanft und vorsichtig seine Hand auf Hannahs Bauch, der jetzt noch schlank und durchtrainiert ist, während sie auf dem Sofa in seinem Arm erschöpft vom vielen Weinen eingeschlafen ist. Morgen würde er seinen Abteilungschef darum bitten, dass man ihm die Elektroden wieder herausnimmt. Die Technik lässt sich nicht aufhalten, aber man muss es auch nicht über das Knie brechen. Irgendwann gewöhnt auch Hannah sich daran, dass der Mensch auch aus Maschinenteilen besteht, so wie sie sich an die ganzen Apps, die einen abhören, an die sozialen Medien, die einen süchtig machen und auch an die heilsbringenden medizinischen Geräte gewöhnt hat: die künstlichen Hüften ihres Vaters, die Krebsversorgung ihrer Mutter mit den Thrombin-DNA-Nanorobotern, den Herzschrittmacher ihres Onkels, an die Beinprothese des Typs aus ihrem Kung-Fu Verein und die künstliche Niere aus dem 3D-Drucker für ihre Kollegin. Nach und nach wird alles zur Normalität. Shifting baseline nennt man das. Man wird sehen, was kommt. Es gibt kein freiwilliges Zurück für die Menschheit. Musil hat Recht. Und vielleicht bleibt ihnen eine gewaltsame Umkehr erspart.
Jetzt möchte er aber erstmal noch glückliche Jahre mit Hannah verbringen. Mit ihr und ihrem gemeinsamen Kind. Und vielleicht wird ja noch alles gut.

(Göttingen, August 2022)

Foto: Shutterstock