Pippi eine ADHS? Ist das eine provokante These? Überzogen? Kaum outen sich berühmte Menschen wie der Kabarettist Eckard von Hirschhausen, der Influencer Felix Lobrecht, der Radrennprofi Jan Ullrich, der deutsche Politiker Christopher Lauer, die Fernsehmoderatorin und Sängerin Nadja abd el Farrag, der Baseballprofi Shane Victorino, dass bei ihnen die Spektrumstörung (1) ADHS diagnostiziert wurde, jetzt auch die Suche nach ADHS bei den berühmten Kinderbuch-Helden?

“Ich habe ADHS, deshalb sind meine Gedanken überall gleichzeitig und ich habe ständig neue, verrückte Ideen. Aber ich bin extrem freundlich zu allen, die ich treffe. (Gabi Grecko, US-amerikanisches Model)

Astrid Lindgren hatte zwei Kinder und wollte selbst nie erwachsen werden. Sie erklärte: “Die beste Zeit meines Lebens war, wenn ich spielen durfte. Ich fand es nicht besonders lustig, größer zu werden“ und sie lässt Pippi erklären, dass Erwachsene langweilig seien: „Sie haben nur einen Haufen Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen.“ Lindgrens Tochter kam auf die Idee einer Figur, die Pippi Langstrumpf hieße, was ihre Mutter sofort aufnahm und weiterspinnte. (2)

Ein Mädchen, das nicht nur stark, reich und autonom ist, sondern das auch über Tische und Bänke geht, alles anders macht als andere, die mit dem Füßen auf dem Kopfkissen schläft, ihr Pferd auf die Veranda stellt, ständig neue Ideen hat, die sie sofort und mit Begeisterung umsetzt, ohne nach den Konsequenzen zu fragen, die keine Lust auf langweilige Schule hat und dort nicht still sitzen kann.
Pippi ist ein Mädchen, das risikiofreudig ist und impulsiv handelt, die nie nach dem Warum und den langfristigen Ergebnissen fragt, sondern einfach ihrem Spontanhedoismus nachgibt und einerseits einen schier unbezwingbaren Bewegungsdrang hat und dann andererseits auch wieder Tage hat, an denen sie einfach nur in der Hängematte abhängen will und molsch in die Gegend guckt: bis zum nächsten spontanen Einfall. Sie ist chaotisch, unstrukturiert, ihre Art von Ordnung ist nur für sie selbst zu durchschauen, in ihrer Wohnung herrscht entweder heilloses Durcheinander oder aber sie bekommt zu einer unchristlichen Tageszeit eine Mega-Putzattacke, während der sie von Hölzchen auf Stöckchen kommt. Sie backt mitten in der Nacht oder reist Hals und Kopf ab, wenn ihr zu Hause zu langweilig wird. Einfach so, ohne groß zu planen. Hätte sie nicht Annika, die alles Organisatorische übernimmt, wäre sie abends mit hungrigem Magen und ohne Decke eingeschlafen. Obwohl – vermutlich hätte sie irgendeine spontane Eingebung gehabt und eine verrückte Lösung für den knurrenden Magen und gegen das Frieren gefunden. Sie verknüpft Dinge miteinander, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen und dabei kommen Geniestreiche heraus. Sie hat offenbar Hunderte von Ideen und wilden Gedanken im Kopf, die nur so sprudeln und durcheinander purzeln. Sie ist ungeduldig, nimmt sofort jeden Reiz von außen auf und setzt ihn um, beginnt unendlich viele Dinge, aber das Fertigbringen liegt nicht in ihrem Fokus. Die Begeisterung des Tuns ist bereits das Ziel. Kann sich irgendeiner vorstellen, dass Pippi sich auch nur wenige Minuten auf etwas Langweiliges, Stumpfsinniges konzentrieren könnte? Wenn sie wütend ist, wie zum Beispiel auf die beiden Einbrecher, dann gehen die Emotionen sofort mit ihr durch und den armen Kerlen ergeht es nicht gut. Aber dann ist sie am Ende doch wieder supernett zu ihnen.

Sie ist ehrlich, direkt, mitfühlend und hat einen starken Gerechtigkeitssinn.

Die Beschreibung von Pippi liest sich wie eine lange Auflistung von ADHS-Symptomen. Die meisten, die diese Diagnose haben, finden sich vermutlich in vielem wieder.

Es fällt mir schwer, längere Zeit ruhig zu sitzen. Ich stehe ständig unter Strom. Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich mich bewegen kann. Ich komme abends ganz schlecht zur Ruhe. Ich mag aufregende Tätigkeiten. Ich bin immer auf der Suche nach dem Kick.“ (Patrick L. – 23 Jahre) (4)

Menschen mit einer ADHS fühlen sich falsch. Vor der Diagnose verstehen sie nicht, was mit ihnen los ist, warum sie anders als die anderen ticken (3). Ist es nicht bestärkend, wenn es in den Büchern eine Heldin gibt, die auch auf diese Art und Weise tickt und der genau diesen “Symptome” Stärke und Charme vermitteln? Pippi ist nicht falsch, sie ist goldrichtig. Das ist ein immenser Trost.
Und dabei ist sie auch noch ein Mädchen, kein Junge.

Dass ADHS vor allem bei Jungs vorkäme, ist inzwischen längst revidiert. Es äußert sich häufig nur bei Mädchen anders als bei Jungs und bleibt damit meist undiagnostiziert Nach alten Statistiken kämen auf vier Jungen mit ADHS ein Mädchen. Diese Zahlen sind wohl eindeutig verzerrt und liegen an der sehr großen Dunkelziffer unerkannter Mädchen mit AD(H)S. Im Erwachsenenalter sind es dann auch nur noch zwei Männer auf eine Frau. Denn auch, dass ADHS sich im Alter auswachsen würde, ist inzwischen überholt. Es mag vorkommen, ist aber nicht die Regel. Bei etwa 40 – 80% der Betroffenen besteht die Störung weiterhin fort, wobei bei einem Drittel der Erwachsenen eine die immer noch beeinträchtigende Symptomatik vorliegt. Kinder, die zu Erwachsenen werden, lernen lediglich, sich Strategien zuzulegen, um damit umzugehen und ihr Handicap zu verstecken. Das ist anstrengend und leider geht darum ADHS im Alter oft mit Co-Morbitäten wie zum Beispiel Depressionen (oft aufgrund Versagens in der Gesellschaft) oder Sucht (oft als Selbstmedikation). Und so finden sie sich auch in der Psychotherapie nicht mit Verdacht auf ADHS wieder, sondern wegen einer Depression – vor allem Frauen.

Oft stoße ich andere Menschen durch unbedachte Äußerungen vor den Kopf. Ich kann ganz schlecht warten. Andere sagen mir, ich sei ungeduldig. (…) Alles muss gleich hier und jetzt sein. (…). Man sagt mir, dass ich sofort rede oder handle, ohne vorher zu denken. Entscheidungen treffe ich immer aus dem Bauch heraus. Ich plane so gut wie nie. (Melanie B. – 43 Jahre) (4)

Zurück zu Pippi Langstrumpf: Ich weiß natürlich nicht, ob Astrid Lindgren ein hyperaktives, aufmerksamkeitsdefizitäres und impulsives (5) Mädchen vor Augen hatte, die sie vielleicht selbst mal war oder ob es “Zufall” ist, dass Pippi alles Symptome einer “ADHS” aufweist. Aber noch bevor mir klar wurde, dass ich eine ADHS habe, habe ich mich in so unglaublich viel Dingen mit Pippi identifiziert – Zwar leider nicht in ihrer Stärke und auch nicht in ihrer Möglichkeit, autonom zu sein, aber in all’ ihren Wesenszügen. Ich habe dazu auch mal eine Kurzgeschichte geschrieben – das war bevor ich wusste, dass ich davon betroffen bin. Sie heißt passenderweise “Pippi Langstrumpf als Borkenkäfer” und ihr könnt sie hier lesen (6).

Und seien wir ehrlich: ein Mädchen wie Pippi würde in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert, sie wäre ausgegrenzt worden, sofort in eine Psychotherapie gesteckt worden (was Prusseliese mit dem Kinderheim ja wohl auch irgendwie probiert hat) und mit Metylphenidat für die Gesellschaft angepasst gemacht worden (aber hätte man sie damit glücklich gemacht?)… Sie hätte keine Chance gehabt in unserer modernen Berufswelt Fuß zu fassen, hätte kläglich in der Schule versagt, obwohl sie in ein super intelligentes Kind war, und außer eine Künstlerkarriere anzustreben hätte man nicht gewusst, was man ihr hätte raten sollen. Und nicht umsonst sind die wenigen erfolgreichen Menschen mit ADHS oft Künstler und Sportler.

„Ich habe ADHS. Ich gebe es zu. Habt ihr auch von dem Streit zwischen dem Elefanten und dem Gorilla gehört? Sorry, das war mal wieder meine ADHS. Während ich versuche, mich auf etwas zu konzentrieren, habe ich all dieses Zeug gleichzeitig in meinem Kopf und ich kann die Dinge nicht langsamer angehen oder einfach aufhören. Aber das ist in Ordnung, weil ich damit zurechtkomme“. (US-amerikanische Rapper und Hip-Hop-Produzent William James Adams)

Völlig gleich, ob man Pippi eine ADHS Diagnose verpassen könnte oder nicht: ich habe mich immer in den Augen der Gesellschaft damit entschuldigt, dass ich eben eine Pippi Langstrumpf sei, tausend Ideen im Kopf habe, keine langweiligen Sachen machen kann, ich mit den Füßen auf dem Kopfkissen schliefe, mein Pferd auf die Veranda stelle und ich in einer Wohnung lebe, die chaotisch und phantasiereich ist wie eine Villa Kunterbunt :-). Man braucht ein Idol, mit dem man sich identifieren kann.

„Heute keine Kolumne. Sondern ein Bekennerbrief zur Aufmerksamkeitsstörung – Attention deficit disorder. Nicht verbunden mit Hyperaktivität, nur im Kopf. Ich hab das. In milder Form. Und ich lebe sehr gut damit. Ich lebe sogar davon. Denn ohne meine sprunghafte Aufmerksamkeit wäre ich nie Komiker geworden. Und viele meiner Komikerkollegen auch nicht […] ‚Das Reh springt hoch, das Reh springt weit – warum auch nicht, es hat ja Zeit!‘. Komik springt um die Ecke. Und um auf so etwas zu kommen, braucht man eine gelockerte Assoziationsfähigkeit. Ist sie viel zu locker, landet man in einer Geschlossenen, ist sie aber nur ein bisschen locker, lockert der Umgang damit andere auf, sie lachen und sind sehr dankbar dafür. Und man selbst auch, denn zum Schalterbeamten hätte man es nie im Leben bringen können […] Schwer haben wir geistig Hyperaktiven es nur, wenn etwas ernsthaft von uns verlangt wird: still sitzen, über Stunden uns mit nur einem Thema beschäftigen oder aber übers Leben mit nur einem Job oder Partner. Das Schwerste ist Pläne einhalten. Pünktlich abgeben oder abheben“. (Eckard von Hirschhausen) (7)

  1. [ Man spricht heute von einer Spektrumsstörung, wie auch bei Autistmus, um auszudrücken, dass es eine weit gefächertes Störungsbild gibt, das sehr in der Ausprägung und den einzelnen Symptomen variieren kann]
  2. [ https://www.geo.de/geolino/mensch/astrid-lindgren-autorin-leben-werk]
  3. Man geht nach aktuellem Stand von einer Lebensprävalenz von 3-10% aus. D.h. soviel Menschen sind in ihrem Leben von ADHS betroffen.
  4. https://www.adhs-ratgeber.com/adhs-symptome.html
  5. [ Das sind die drei Leitsymptome von ADHS nach dem ICD-10: Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizit und Impulsivität.]
  6. [„Pippi Langstrumpf als Borkenkäfer“ http://jannae-nadius.com/vollstaendige-erzaehungen/pippi-langstrumpf-als-borkenkaefer/].
  7. https://www.adhspedia.de/wiki/Bekannte_Pers%C3%B6nlichkeiten_mit_ADHS

NB: Es gibt hier ausnahmsweise keine Literaturhinweise, weil ich bereits soviel zu dem Thema ADHS gelesen habe, dass ich alle Fakten und Symptome auswendig kenne und nicht mehr weiß, aus welchen Quellen ich sie gelernt habe und ich mich auch schwer mit der Auswahl tue. Aber ich schreibe gerade ein erzählendes Sachbuch, dort wird es eine ellenlange Liste mit Quellen und Literaturhinweisen geben. Wer so lange nicht warten möchte und ein persönliches Schicksal mit psychologischen Fakten lesen möchte, dem empfehle ich das Buch von Angelina Boerger “Kirmes im Kopf. Natürlich kann man auch einfach nach ADHS googlen. Oder es bei Spotify oder anderen Podcast-Apps eingegen, es gibt sehr spannende Interviews mit Betroffenen.

Hatte Pippi ADHS?

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2 Gedanken zu „Hatte Pippi ADHS?

  1. Nachtrag: Seit dem Schreiben des Blog Artikels ist einige Zeit vergangen und inzwischen habe ich ADHS zu meinem Beruf hinzugefügt und führe ADHS Diagnose und Psychotherapie durch (http://jannalehmann.de). Und in einer meiner vielen Fortbildungen machte ein erfahrener ADHS Spezialist, Roberto d’Amelio, darauf aufmerksam, dass auch Michl aus Lönnebergas ADHS Symptomatik nicht nur in der Fachwelt als „typischer Fall“ anerkannt wird, sondern auch Astrid Lindgreen sich selbst in dieser Hinsicht zu ihrer Romanfigur geäußert hat. Ob sie ähnliches auch für Pippi im Hinterkopf hatte, dazu gibt es leider keine Hinweise.

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