Romanfragment, 2015

Foto: Jannae Nadius

Kapitel 1: Pfefferhausen ist nicht am Ende der Welt, sondern am Anfang

Hastig renne ich ins Wohnzimmer, hole das penetrant bimmelnde Telefon und antworte, während ich in die Küche zu der Pfanne mit heißem Öl auf der Herdplatte zurückhetze.

„Hallo?!“ Ich habe viele Jahre in Frankreich gelebt und mir dort angewöhnt, mich wie dort landesüblich am Telefon nicht mit Namen zu melden.

 „Ja, guten Tag, Spreche ich mit Frau Dr. Anders?“ Das Gegenüber ist dadurch etwas verunsichert.

Ich antworte mit einem erst bestätigendem, dann fragenden: „Ja. .. aaa…a!? und mein Tonfall zieht sich von Zustimmung bis hin zur deutlichen Genervtheit und beinhaltet die ganze Bandbreite von: „Ja, das bin ich!“ zu: „und Sie, wer sind Sie und was wollen Sie!?“ und einem Klaren: „Ich kann jetzt eigentlich überhaupt nicht!“ Ich presse den Hörer zwischen Ohr und Schulter, hantiert wieder mit der Pfanne, und beobachte meine zweijährige Tochter Annouk, die einen offenen, vollen Jogurtbecher zum Tisch transportiert. „Hier ist das Pfefferhausener Tageblatt, Sie haben sich bei uns auf eine Stelle als Redakteurin beworben“, nuschelt es undeutlich in die Muschel. Ich weiß nicht, ob es der Typ ist, der nuschelt, oder ob es daran liegt, dass der Hörer zwischen Ohr und Schulter verrutscht ist, jedenfalls verstehe ich nur die Hälfte. Meine kleine Tochter schiebt den Jogurtbecher auf den Tisch. „Ploff!!“ Sie hat den Becher zu nah an die Kante gestellt. Annouk weint. „Entschuldigung, was sagten Sie? Von welcher Zeitung rufen Sie an?“ Ich verlasse schnell die Küche, in der Annouk inmitten des Jogurts weiterheult, mache brutal und herzlos die Tür zu, damit mich das Gebrüll nicht stört. Ich versuche, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, das ungeheuer wichtig ist, es geht um einen Job.  Irgendetwas Warmes, Nasses läuft mir an den Innenseiten der Oberschenkel herunter. Der Tampon läuft durch! Seit ich mein zweites Kind abgestillt habe und meine Regel wiedergekommen ist, blute ich monatlich wie ein abgestochenes Schwein. Meine Tochter steht brüllend im Joghurt, ich im Blut, der Chefredakteur des Tageblattes von Pfefferhausen, – wo ich mich tatsächlich beworben habe, aber es war eine von zweiunddreißig Anfragen und ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wo das Kaff genau liegt-, redet geschäftig auf mich ein und ich bin dankbar, dass das Telefon mit Bildübertragung noch nicht standardmässig eingeführt ist.

*****

Auf dem Weg nach Pfefferhausen hüpfen und springen meine Gedanken hin- und her. Ein altbekanntes Gefühl. Eigentlich sieht es immer in meinem Kopf so aus, nie komme ich zur gedanklichen Ruhe, selten bin ich in Gedanken auf weniger als drei Dinge gleichzeitig konzentriert. Zu Momenten des Flows bin ich noch fähig – aber mein Leben lässt mir kaum Zeitfenster dafür offen, die Kinder lassen mir selten Luft zum Atmen und ich verlerne es zunehmend. ‚Kinder nehmen einem die Identität, man verliert seine eigentliche Persönlichkeit.  Die alte eigentliche Persönlichkeit läuft nur noch wie ein Schatten neben einem her, all die Jahre…’. Das ist nicht von mir, ich habe es in einem Roman gelesen.

Jetzt bin ich auch noch auf Jobsuche, alleinerziehend und mit der finanziellen Last der Kinder auf meinen alleinigen Schultern.

Ich fahre in nervöser Erwartung zum Vorstellungsgespräch nach Pfefferhausen. Google hat mir verraten, wo es liegt. Es ist eine von den kleinen Tageblättern, die entgegen des Namens lediglich einmal in der Woche erscheinen und sich nur mit Anzeigen über Wasser halten. Da möchte nicht mal jemand Chefredakteur werden, außer er ist zerfressen vor Idealismus und Heimatverbundenheit. Wer bleibt sonst freiwillig in Pfefferhausen und arbeitet für eine dem Tod geweihten Dorfzeitung?! Die nächste Autobahn ist eine Dreiviertelstunde entfernt, die nächste Kleinstadt 30 Minuten, die nächste Großstadt ist schon fast Ausland… ein Fliegendreck auf der Landkarte. Selbst wenn man die Googlemap immer mehr vergrößert, erscheint erst nach höchster Auflösung etwas, das nach erkennbarer Zivilisation aussieht.

Ich habe Romanistik und Literaturwissenschaften studiert, so brotlos wie die Auflagen der Pfefferhausener Zeitung. Aber irgendeine Arbeit muss ich finden. Als Romanistin mit ausländischem Universitätsabschluss, alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern und einem arbeitslosen, psychisch labilen Kindesvater habe ich wenig Wahl.

Es muss klappen! Ich muss was finden!

Ich will optimistisch sein, immerhin haben die Weisheitskarten, die ich letzte Woche gezogen habe, einen baldigen Paradigmenwechsel vorhergesagt: „Wenn Du Wunder erwartest, kommen sie!“ lautete ihre Aussage. Ja, ein Wunder hätte ich gern… Ich bin mal wieder gerade auf einem großen spirituellen Weg. Vielleicht aus Verzweiflung. Vielleicht zur Flucht. Vielleicht als letzter Versuch, mein Leben wenigstens geistig in den Griff zu bekommen, wo materiell alles drunter und drüber läuft. Den spirituellen Weg habe ich schon öfter gesucht, manchmal bin ich eine Zeit auf ihm länger gewandelt, manchmal habe ich ihn nur gekreuzt, manchmal ging ich ihn zusammen mit einer Freundin, manchmal allein. Ich hatte Tarotkarten gelegt, soviel und intensiv, bis jede Karte einen Teil meiner Lebensgeschichte widerspiegelte und ich sie nicht mehr legen konnte, weil sie mir das Gefühl gaben alles wiederhole sich und ich drehe mich im Kreis. Nun habe ich begeistert neue Karten gefunden: Passend nennen sie sich „Map of Life“, wunderschön gemalt, kitschig modern statt mittelalterlich angehaucht – mein Leben kann wieder von vorn losgehen! 74 Karten lang, mal zwei. Wenn man sie umgedreht zieht, haben sie ja eine andere Bedeutung. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Mit Mitte vierzig hatte ich eh das Gefühl, mehr die Hälfte hinter mir zu haben, rein rechnerisch gesehen. In keinem Fall will ich viel älter als siebzig werden, denn ich bin jetzt schon so müde. Überhaupt habe ich das Gefühl, bereits ein ganzes Leben gelebt und verschlissen zu haben und vor einem Neuen zu stehen. Aber ich bin noch geschlaucht von dem Ersten und hätte eigentlich zwischendurch sterben sollen, um mich erst einmal wieder zu erholen. Stattdessen gehe ich bereits völlig ausgebrannt von dem ersten Leben ins zweite, ohne verschnauft zu haben.

Ich versuche es mit Entspannungstechniken. Seit sechs Jahren mache ich Yoga und versuche, mit meinem inneren Krauskopf zu meditieren, beschäftige mich ausgiebig mit Buddhismus, fresse mich gerade durch eine Menge Bücher über Quantenphysik, Spiegelneuronen, morphogenetischen Felder und Epigenetik und habe mich mit Nahtoderfahrungen beschäftigt – worauf ich meinen  Organspendeausweis aus dem Portemonnaie geholt habe und erst mal zur weiteren Überlegungen in dem hintersten Winkel meiner Schreibtischablage gelegt habe. Letztes Jahr habe ich einen VHS Kurs „Mantrasingen“ belegt und das Chanten begonnen. Der spirituelle Leiter sprach dort immer von dem >Rest unseres Lebens<: „Stellt es euch vor, wie soll es aussehen? Wie soll es weitergehen?“, fragte er uns dann weise lächelnd und blickte uns erwartungsvoll an. Rest meines Lebens – ich kann aber die nächsten dreißig bis vierzig Jahre nicht als Rest meines Lebens empfinden, sondern irgendwie stehe ich am Anfang.

Wird er hier sein, der Anfang? Ich komme am Ortsschild vorbei „Pfefferhausen“. Ok, es gibt einen kleinen Baumarkt. Eine Tankstelle. Immerhin, ein guter Anfang. Ein Auto ist hier dringend nötig, und man muss sicher auch eine Menge selbst basteln und bauen, da es hier nichts Fertiges zu kaufen gibt.

Das Redaktionsgebäude ist dagegen unproportioniert riesig. Es liegt in einer inzwischen leerstehenden Fertighausfabrik, in der früher 80% der Bewohner Pfefferhausens und Umgebung gearbeitet haben. Als es schloss, blieb nicht nur dieses riesige leere Gebäude, das wie das Mahnmal einer radioaktiv verseuchten Gegend am Ortsrand steht, sondern es zog vor allem eine fatale Arbeitslosigkeit mit sich und viele mussten wegziehen, einer anderen Arbeit entgegen. Sollte ich nun hierherziehen, einer neuen Arbeit entgegen? Ich komme an einer riesigen Schule vorbei… sie ist so überproportional groß wie die leere Baufabrik, aber in ihr herrscht Leben – Hunderte von Schülern drängeln aus den zwei Eingängen eines Plattenbaus, der zusammengestückelt und langsam gewachsen zu sein scheint. Die Schule von Pfefferhausen hat ein Einzugsgebiet von 15 km, indem es nichts weiter gibt als noch kleinere Käffer als dieses hier. Die Schüler werden jeden Morgen mit überfüllten Bussen hierher gekarrt und wieder zurückgekarrt. In den Freistunden, in denen sie das Schulgebäude nicht verlassen dürfen, es aber sicher natürlich dennoch tun, steht ihnen ein Supermarkt, eine Dönerbude direkt gegenüber der Schule (welch’ Zufall) und eine Eisdiele-Pizzeria zur Verfügung. Zumindest die Dönerbude dürfte ausschließlich von den Schülern leben.

Ich bin genau in so einem Kaff aufgewachsen, nicht am Tiefenstein-Gebirgszug, an dessen Fuße Pfefferhausen liegt, sondern am Fuße der Kuhelle, im tiefsten Sauerland. Die Kuhelle war der höchste Berg vor Ort, meine Schule lag direkt gegenüber auf einem anderen Berg. Auch sie hatte ein Einzugsgebiet von 15 km. Auch zu ihr wurden wir mit Bussen gekarrt, die in den Schulferien und am Wochenende nicht fuhren. Sogar das schwarz-weiße Fachwerk finde ich hier wieder. Am Anfang. Wie ein Spielball wieder an den Anfang des Lebens geschnippt, von irgendeiner bösartigen Hand, die mich nicht zwischendurch sterben lassen wollte.

Zwölf Umzüge, zwei verschieden Länder, drei langen Beziehungen mit Männern unterschiedlicher Nationen habe ich hinter mir. Wieso lebe ich noch immer, was soll noch alles kommen? Ja. Zwei Kinder. Die waren der erneute Anfang. Es gibt ein Leben vor der Geburt des ersten Kindes und das danach. Aber ich habe dieses zweite Leben bereits mit leeren Akkus begonnen. Meine Beziehung mit dem Vater meiner Kinder musste unter diesen Bedingungen den Bach runtergehen – woher hätte ich noch zusätzlich die Kraft für einen Mann nehmen sollen, der anstrengender war als ein Dutzend Kinder?

Du hast immer den schwereren Weg gewählt, wenn du gewählt hast – fällt dir das nicht auf?“ brabbelt mir eine wohlbekannte Stimme in meine Gedanken. Das war Tante Erna. Nein, ich habe sie nicht etwa mitgenommen. Hätte ich auch gar nicht gekonnt, denn Tante Erna ist längst tot. Schon viele, viele Jahre. Ich habe sie in meiner Kindheit kennengelernt, aber gar keine sehr präzise Erinnerung mehr an sie. Ich bin wie alle Familienmitglieder mit auf der Beerdigung gewesen, wie alle war ich traurig, man ist immer traurig und irgendwie erschüttert, wenn jemand, den man kennt, stirbt, vielleicht, weil der Tod ansich etwas Unheimliches hat. Am ehrlichsten geweint hat meine Mutter, die sich immer so herzzerreißend mit ihrer Schwester gestritten hatte, dass klar war, dass sie sie bitterlich vermissen würde. Für sie war es ein herber Verlust und sie hat seitdem angefangen, aus Kompensation mehr mit meinem Vater zu streiten.

Aber ich hatte sie dann jahrelang vergessen. Sie hat nie Kinder gehabt, also gab es von ihrer Seite auch keine Cousins für mich. Eine Zeit lang nach der Geburt meines zweiten Kindes war sie dann plötzlich aufgetaucht. Keiner sieht oder hört sie, nur ich. Und seitdem taucht sie immer wieder auf. Und meint, alles und jedes in meinem Leben kommentieren zu müssen, meist in den unpassensten Momenten. Ich seufze. Sie wird mich also begleiten, wenn ich jetzt, nachdem ich mehrmals das Gebäude umlaufen habe, um den Eingang zu finden, durch eine riesige, verstaubt wirkende Halle mit großen, bis zum Boden gehenden Glasfenstern in den ersten Stock gehe, und zaghaft den wahrscheinlich einzig funktionierenden Klingelknopf des Flurs drücke. Hoffentlich hält sie wenigstens während des Gesprächs den Schnabel.

Der Chefredakteur des Pfefferhausener Tageblattes ist ein nicht allzu großer, aber nicht allzu unattraktiver Endvierziger. Er macht mir selbst die Tür auf.

„Frau Dr. Anders?“

Ja, natürlich, wer denn sonst klingelt hier wohl in diesem gottverlassenen Gebäude an Ihrer Redaktionstür, zu exakt der Zeit, an der Sie mich hierher bestellt haben? Das sage ich natürlich nicht.

„Ja. Es war nicht ganz einfach zu finden, – der Eingang, meine ich. Es ist ja ein riesiges Gebäude.“ War das jetzt ein faux-pas? Drücke ich damit aus, dass ich das alles hier für eine hoffnungslose Geisterstadt ohne Zukunft halte?

Aber er lächelt verständnisvoll. „Das Gebäude steht leider seit langem weitgehend leer, aber es gibt eine Menge Projekte, und irgendwann wird es zu neuem Leben erblühen, warten Sie es ab.“ Ja, er ist der hoffnungslose Idealist, der heimatverbunden dieses Tageblatt hochhalten wird, bis es endgültig so in den roten Zahlen stehen wird, dass kein noch so engagierter Wiederbelebungsversuch, keine Mund-zu-Mund Beatmung, kein Defibrillator mehr diesen Zeitungskadaver retten wird. Ob ich das gemeinsam mit ihm abwarten will?

„Was für Projekte?“ frage ich mit geheucheltem Interesse. Kein Projekt von Interesse kann für seine Sache dieses marode Gebäude anvisieren.

„Die Bürgerhilfe möchte hier unten ihre Tore öffnen, ein Outlet Geschäft für Sportartikel hat auch schon Interesse angemeldet, die Post überlegt hier ein Zwischenlager einzurichten, die VHS denkt auch darüber nach, ob man die Räume für Kurse umrüsten könnte…“.

Bis auf die Bürgerhilfe und die Post würde ich mit nichts rechnen. Hier ein Sportwaren-outlet – das wäre absolut hirnrissig. Das wäre wie ein Meisner Porzellanladen in der Wüste. Und VHS Kurse dürften hier im Ort kaum zustande kommen. Nicht mal ein Kurs: <Wie sticke ich meine Tischdeckchen selbst?>.

„Aha, klingt gut.“ murmele ich und folge ihm in sein Büro, mit Blick auf den verwaisten Hof. Sein Schreibtisch ist dagegen ganz und gar nicht verwaist, er scheint hier Tag und Nacht zu verbringen. Soll ich ihn gleich zu Anfang fragen, wie viel Mitarbeiter die Zeitung eigentlich hat? Aber er kommt mir dann zuvor.

„Wir haben keine festen Mitarbeiter zurzeit. Aber eine Menge freie, die regelmäßig für uns schreiben. Dennoch wird die Arbeit allein zu viel, ich brauche einen zweiten festen Mitarbeiter.“ Er reicht mir ein Exemplar, während ich sie durchblättere, spüre ich seinen Blick auf mir. Er mag mich, das ist ihm auf Anhieb anzumerken. Verstohlen ein Blick auf seine Hände – kein Ehering.

„Hey, niemals Arbeit und Affären vermengen, meine Kleine! Das weißt du genau. Das ist doch auch deine Devise“ – Tante Erna. Sie steht, für den Redakteur nicht sicht- und verlautbar, am Rande des Tisches, ich will instinktiv den Stapel instabil aufeinander geschichteter Papiere festhalten, dem sie sich gefährlich nähert, kann mich aber gerade noch zurückhalten. Auf sichtbare Materie hat sie keinen Einfluss, außer, sie will es. Ich sacke auf meinen Stuhl zurück. Der Redakteur sieht mich kurz fragend an, nimmt mein Andeuten eines Aufstehens als Geste, dass ich nun „Aktion“ erwarte. Folgerichtig führt er mich durch das Büro. Viel ist hier nicht, außer seinem Zimmer gibt es einen kleinen Empfangsraum, durch das ich gekommen bin und wo drei Wartestühle stehen – wofür eigentlich? – und ein großes Büro mit zwei Schreibtischen, die, bis auf einen freien Fleck in der Mitte, wo die freien Mitarbeiter dann wohl ihren mitgebrachten Laptop platzieren, auch ziemlich vollgestopft sind, vor allem mit Exemplaren anderer Zeitungen und alten Ausgaben des „PfeTa“ (so schien es sich intern abzukürzen).

„Wir arbeiten eng mit der Tageszeitung von H. zusammen“ (das war die nächste große Stadt – die, die über eine Stunde entfernt liegt), „und die außerregionalen Meldungen übernehmen wir von ihr“, erklärt er mir weiter und sieht mich dabei immer wohlwollender an. Je freundlicher und offener sein Blick wird, umso unwohler fühle ich mich. Nicht, weil ich ihn nicht sympathisch oder unattraktiv fände – eher aus dem gegenteiligen Grund. Zwischendurch fange ich einen mahnenden Blick von Tante Erna auf.

„Wir telefonieren dann im Laufe der Woche, wenn Sie alles durchdacht haben, auch mit dem Arbeitsamt geredet haben?“, fragt er mich und ich nicke. An der Tür der Redaktion stehend, gebe ihm die Hand, die er warm und etwas länger als nötig in der seinen behält, auch ich kann meine Sympathie für ihn nicht gänzlich verstecken und er denkt sicher, er hätte mich für den Job. Und vielleicht nicht nur für den.

Ich bemühe mich, die Treppe ruhig herunterzugehen und nicht hastig über den Hof zu rennen, innerlich fühlt es sich aber irgendwie nach Flucht an.

Mein Kind, du wirst dich darauf doch nicht einlassen!“ Tante Erna sitzt auf dem Beifahrersitz, während ich den Weg zum Kindergarten suche. Ich will mich vorsorglich erkundigen, wie es hier mit der Kinderbetreuung aussieht, und was für ein Eindruck der Kindergarten macht.

„Was denn? Der Job macht sicher Spaß, man ist verantwortlich für alles, macht nicht nur so einen kleinen Teil ohne Einfluss auf das Ganze. Man kann sich richtig engagieren“, verteidige ich mich.

„Jaja, und der Herr Pfeta hat es dir auch angetan! Den nimmst du gleich mit zum neuen Job?“

„Er heißt nicht PfeTa, so heißt die Zeitung!“, lenke ich ab.

Papperlapapp. Völlig wurscht, wie der Mensch heißt, ich muss mir das auch nicht merken, denn du wirst diesen Job nicht antreten und nicht nach Pfefferhausen ziehen!“

„Aber Tante Erna, ich muss doch irgendwann auch mal wieder arbeiten! Und ein Job bei einer Zeitung, das fände ich schon cool!“

„Was heißt hier „cool“, du immer mit deinen Modewörten. Nix ist „cool“ daran, bei einer winzigen, verstaubten Lokalzeitung zu arbeiten, als rechte Hand eines Redakteurs, dem jeglicher Blick fürs Realistische fehlt, und mit dem du womöglich auch noch was anfängst!“

„Wer sagt denn, dass ich gleich was mit ihm anfange? Und wenn schon, was hast du gegen ihn? Irgendwann muss ich doch auch mal wieder einen neuen Partner finden. Soll ich ewig allein bleiben und ‘ne alte Jungfer werden?“

Na, für das Jungferndasein ist es ja wohl nun eh schon zu spät…“ brummelt Tante Erna mir dazwischen. Aber ich lasse mich nicht abbringen, bin gerade so richtig dabei, mich in Fahrt zu reden. „Guck mal, ich muss in Deutschland wieder beruflich Fuß fassen nach den langen Jahren im Ausland, das ist schon nicht so einfach, dann muss ich auch jetzt Verantwortung übernehmen für zwei Kinder, allein, Celestin bezahlt keinen Pfennig, und überhaupt kann ich mich nicht auf ihn verlassen! Das weißt du genau. Du warst ja dabei, als er letztens die Kinder besucht hat!“ In mir steigen sofort die unangenehmen Erinnerungen hoch, nicht nur wegen Celestins Auftritt, als er letztes Mal „zu Besuch“ war, sondern auch wegen Tante Ernas Auftritt. Ich war eh total im Stress mit diesem unberechenbaren Ex, auf den ich innerlich eine Stinkwut habe, bei dem ich aber nach Außen gute Miene zum bösen Spiel machen muss, den Kindern zuliebe. Und dann quasselte mir ununterbrochen Tante Erna rein! Zu allem musste sie ihren Senf dazu geben, sie lästerte total ab über ihn, warf mir mein nach außen getragenes lammfrommes Verhalten vor und forderte mich auf, ihm gefälligst Zunder zu geben, wenn er schon keinen Unterhalt zahle, sich auch sonst aus jeder Verantwortung stehle, aber eine große Klappe habe und bei allem Mitreden und Mitentscheiden wolle. Nicht, dass sie nicht recht gehabt hätte, aber das brachte mich nicht weiter, sie dauernd zu hören und sehen, wie sie neben uns stand, während Celestin von ihr natürlich nichts wahrnahm, nur das Gefühl hatte, ich benähme mich seltsam und führe zwischendurch leise Selbstgespräche.

„Ja, ich erinnere mich gut! So ein Schaumschläger! Ich hoffe bloß, die Kinder haben nicht zuviel Gene von ihm geerbt!“ schimpft Tante Erna.

„Vermutlich ziemlich genau 50%“, murmele ich vor mich hin. Aber jetzt ist Tante Erna nicht mehr zu bremsen.

„Und nun glaubst du, ein Mann wie dieser … na, egal wie er heißt, dieser Redaktionsfritze, der wäre nun besser.“

„Was denn, wenigstens weiß er, was ‚arbeiten’ bedeutet, sich für was zu engagieren. Außerdem finde ich ihn sehr sympathisch.“

„Wieso, bitte schön, ist ein Mann in seinem Alter überhaupt zu haben? Wenn er doch arbeitet? Und so toll ist? Hä? Und so sympathisch?“

„Hör mal, Tante Erna, wenn man dich so hört, muss man meinen, alle Männer, die mit Ende Vierzig getrennt und nicht wieder sofort neu unter der Haube sind, wären schon per se verdächtig, für eine Beziehung nichts zu taugen!“

Ja, genau das meine ich!“

Erzürnt bäumt sich etwas in mir auf und sackt wieder in sich zusammen. Ehrlich gesagt kommt mir auch immer wieder ein ähnlicher Verdacht. Die tollen Männer, die sind in festen Händen. Meist in einer tollen Ehe, die schon ganz früh geschlossen wurde. Und vielleicht sind diese Männer auch deswegen toll geworden, weil sie seit Jahrzehnten eine tolle Ehe haben. Oder weil sie eben toll sind, haben sie eine bereits jahrzehntelang währende Ehe. Ei oder Henne. Was war zuerst da? So oder so, frei werden sie nur, wenn sie eben nicht so toll sind.

Ich setze neu an: „Aber dann wären auch alle Frauen in meinem Alter verdächtig, beziehungsunfähig und eben nicht so toll zu sein, wenn sie noch zu haben sind.“

„Das ist was ganz anderes, mein Kind! Es sind die Frauen, die entscheiden, ob sie eine Ehe für gut halten oder nicht. Und die entscheiden, ob sie gehen oder bleiben. Wenn sie gehen, dann weil der Mann nichts taugt, nicht, weil sie nicht gut genug wären.“

„Und wenn der Mann die Frau verlässt?“ werfe ich ein.

Dann spricht das dafür, dass der Mann ein Schlappschwanz ist und keine Verantwortung übernehmen will. Denn welcher Mann geht schon und nimmt die Kinder mit? Wenn ein Mann geht, dann verlässt er nicht nur die Frau, sondern auch die Kinder und überlässt der Frau die Verantwortung! Wenn eine Frau geht, verlässt sie nicht die Kinder, sondern nur den Mann. Und nimmt die Verantwortung mit und gibt sie nicht ab. Das ist der fundamentale Unterschied.“

„Es gibt auch Männer, die nehmen die Kinder mit….“, versuche ich einen schwachen Einwand. „Wie viele Fälle kennst du aus deinem Bekanntenkreis, wo das so war?“ „Mir fällt gerade keiner ein, aber es gibt sie!“ „Mag sein, aber so selten, wie Hagel im August!“ triumphiert Tante Erna. „Und diese wenigen Männer – die finden dann auch sofort wieder eine Frau. Und sind ganz schnell weg vom Markt.“

Ich gebe auf. Ganz so einfach, wie Tante Erna es sich da macht, ist es nun auch wieder nicht. Wie sind wir eigentlich dahin gekommen, zu dieser unsäglichen Diskussion? Ach ja, weil ich mich eben doch nach einer neuen Beziehung sehne, irgendwie.

„Ach Tante Erna….“. Ich seufze verzweifelt: „Ich brauch ‚nen neuen Job,’ nen neuen Mann… wieder Anfänge. Immer wieder Anfänge.“

Die bereits immer das Ende beinhalten, mein Liebes!“

„Aber warum hat man nie ein Gefühl von Kontinuität?“

“Weil du nicht das Ende gleich mitsiehst. Kontinuität hat nur, was von einem Punkt A zielstrebig zu einem Punkt B läuft.“ Sie zieht mit dem Zeigefinger akkurat eine Linie in die Luft, von rechts nach links. Dann fährt sie fort: „Bei dir ist aber nie was zielstrebig. Du fängst was an, weißt aber nicht mal annähernd, wo du dabei endest!“

„Aber das sieht man am Anfang nicht. Außerdem, wie soll man mit Optimismus was Neues beginnen, wenn man bereits das Ende plant?“

„Nicht planen, mein Kind. Voraussehen. In Betracht ziehen. Und gleich überlegen, ob man so enden will.“

„Oder wo man eigentlich hinwill, meinst du?“ Manchmal waren ihre einfachen Logiken so bestechend, dass ich das Gefühl bekommen könnte, sie habe dauernd Recht. Wenn eine Antwort zu kompliziert wird, soll man überlegen, ob man die Frage überhaupt richtig gestellt hat. Und wenn du eine weise Antwort verlangst, musst du vernünftig fragen. Welcher weise Mensch hat das noch mal gesagt?

„Goethe“, antwortet Erna wie aus der Pistole geschossen. „Nanu, seit wann bist du literarisch bewandert?“ frage ich Tante Erna „Bin ich nicht, der Spruch hängt an deinem Pinnbrett. Da habe ich den Namen gelesen.“

Nach einer Pause nimmt sie den Faden wieder auf: „Du solltest also überlegen, wo du endest, wenn du nach Pfefferhausen zögest, den Job annähmest und was mit diesem Zeitungsmenschen anfingest!“ So viel grammatikalische Kenntnis so vieler betonter Konjunktive hätte ich Tante Erna gar nicht zugetraut.

„Ich würde einen Job machen, in dem ich ganz viele meiner Kompetenzen anwenden könnte. Nicht nur schreiben, sondern auch digital, auch mit Computerprogrammen umgehen, das Layout mitgestalten…“ – „Halt, Halt, Kleines! Wo du ENDEN wirst, darüber sollst du nachdenken!“ unterbricht mich Tante Erna vehement. „Nicht über den krausen Weg dazwischen. Ich kann dir aber sagen, wo du enden wirst: du wirst ziemlich schnell total am Stock gehen, weil du Überstunden machen musst, bis spät abends arbeiten, dann nachts nicht schlafen kannst, weil eins der Kinder dich nicht lässt, und wenn du krank bist oder eins der Kinder, wirst du von zuhause aus weiter machen, egal, wie beschissen es dir geht, weil die Zeitung raus muss und keine Rücksicht auf deine Bedürfnisse als alleinerziehende Mutter nehmen kann – ohne soziales Netz in Pfefferhausen, du kennst keine Menschenseele hier..“ – „Ich werde welche kennenlernen!“ werfe ich verzweifelt ein. „Nein, wirst du nicht, Pfefferhausen ist ein Kaff, in dem die Menschen nur deswegen leben, weil sie schon seit Generationen hier leben, denn kein normaler Mensch zieht von außen freiwillig hierher ..“ – „Doch, ich vielleicht…“ werfe ich kurz ein. „Nein, du bist kein normaler Mensch.“ übergeht Tante Erna meinen Einwand kurz und tonlos, und redet dann erregt weiter. „Du wirst keine tiefergreifenden Kontakte hier finden, und schon gar nicht als Alleinerziehende, ständig Arbeitende. Du wirst also innerhalb kürzester Zeit auf dem Zahnfleisch gehen, und wenn die Zeitung nicht vorher schlappgemacht hat und du eh wieder arbeitslos sein wirst, dann wirst du so ausgebrannt sein, dass du keinerlei Spaß mehr an dem „coolen Job“ haben wirst. So wirst du enden.“ Sie legt eine bedeutungsvolle Pause ein. Dann holt sie Luft und legt wieder los, während ich alles über mich ergehen lasse. Im Prinzip hat sie Recht. Ich überschätze mich und meine Kräfte maßlos. Wo ich mich gerade noch beklagt hatte, dass ich davon ja sowieso jetzt schon längst keine mehr habe. Tante Erna ist noch nicht fertig: „… und was deinen Zeitungsfritzen angeht….“. – „Er ist nicht MEIN Zeitungsfritze!“, widerspreche ich vehement. „Also, was DEN Zeitungsfritzen angeht, der ist ein hoffnungsloser Idealist, der arbeitet von morgens bis abends, er wird keine Zeit für dich, geschweige denn für deine Sorgen und deine Kinder haben. Du wirst für ihn da sein sollen, aber wenn du ihn brauchst, wird er die Arbeit vorschieben, und weil ihr zusammen wärt, würde er von dir noch mehr als von einer normalen Mitarbeiterin verlangen. Am Ende wirst nur du geben und er nehmen, du wirst ihn frustriert verlassen – nicht sofort, erst, wenn es wirklich bis zum Letzten ausgereizt ist und du gar nicht mehr kannst – du gibst ja nie schnell auf, das ist zugleich deine größte Stärke und deine schlimmste Schwäche-   und dann hast du das Riesenproblem: Dein Ex wird dein direkter Chef sein, mit dem du dann zusammenarbeiten musst.“ Sie schweigt, ich soll das Gesagte sacken lassen. Was ich tue, in mich zusammengesunken.

Sitz gerade!“ herrscht sie mich im Militärton an, dann wird ihre Stimme sanfter: „Mein Liebes! Warum hast du es so eilig? Du bist erst seit anderthalb Jahren getrennt, erhol dich erstmal von der Beziehung mit Celestin. Annouk ist erst zwei, Lysander gerade vier. Du bekommst doch dieses… .. dieses… nicht Sozialhilfe, das sagt ihr ja nicht mehr, irgendwas wie der stinkende Käse und eine Nummer, Harzer vier oder so…“ – „Hartz IV, Tante Erna, du tust, als seist du schon so lange tot, dass du das nicht mehr kennst. „Als ich noch lebte, gab es das jedenfalls noch nicht!“ Ich rechne nach. Sie hat Recht. Als sie gestorben ist, gab es noch kein Hartz IV, nur Sozialhilfe.

Wir stehen seit einer Viertel Stunde vor dem Kindergarten auf dem Parkplatz, der an einem romantischen Waldsaum liegt, mit großem Garten und Abenteuerspielplatz. Es gibt eine Nachmittagsbetreuung und viele Waldaktivitäten.

Ich starre durch die Windschutzscheibe auf den Kindergarten. Den Wald. Auf meine Hand, die noch immer an dem Zündschlüssel hängt, eingefroren in der umgedrehten Handbewegung, mit der ich den Motor ausgemacht habe. Ich dreh ihn wieder zurück, mache den Motor wieder an. Ja, man sollte doch inzwischen so weise sein, so erfahren, dass man im Anfang bereits das Ende vorhersagt… zumindest bei Männern sollte man inzwischen so weise sein: wie viel hat man dazu gelesen, wie viel beobachtet, immer wieder, wie viel hat man selber schon erlebt! Und doch lässt man sich immer wieder drauf ein. Wie so ein durchgeknallter Lemming, der auf die Klippe zurennt. Aber der hat zumindest die Entschuldigung, dass er von hinten gedrängelt wird. Hat man diese Entschuldigung auch in irgendeiner Form, wenn man sich mal wieder auf einen neuen Mann einlässt? Drängelt da wer? Oder was?

*****

Am Ende der Woche, – ultimo-,  rufe ich mit unglaublicher Überwindung bei dem Redakteur der PfeTa an und erkläre ihm, dass ich den Job ablehne. Dass ich mir diesen zeitintensiven Job als alleinerziehende Mutter nicht zutraue. Er reagiert bedauernd, ich spüre, so richtig versteht er meine Situation nicht. Er hat erfasst, dass ich eine Frau bin, die enthusiastisch und begeisterungsfähig ist und versteht nicht, dass ich solche Einwände wie kleine Kinder und so ins Feld führen kann. Der Idealismus und die Euphorie muss doch alles wuppen, oder? Wenn er das jetzt schon nicht versteht – wie hätte er reagiert, wenn ich das erste Mal nicht in die Redaktion hätte kommen können, weil Lysander mit einer Magen-Darm Infektion kämpft, obwohl doch am nächsten Tag die Zeitung hätte rauskommen müssen?

(Ende der Leseprobe)