Nur noch eins. Ein Einziges. Oder ein Halbes.
Chloé steht auf, hält sich einen Moment lang an der Schreibtischkante fest. Sie merkt es schon im Kopf, viel verträgt sie nicht.
„Mama, ich brauche für Morgen noch eine Entschuldigung, dass ich Sport nicht mitmachen kann!“ brüllt Suzy vom Flur in Chloés Arbeitszimmer.
Ach ja, Mist, das hat sie vergessen.
„Mach ich morgen früh, versprochen“, sagt sie und nickt ihrer Tochter zu, während sie zur Küche geht.
„Aber nicht vergessen, ja?“, nörgelt ihre Tochter, die derweil ins Bad verschwindet, um ihre Pubertätspickel mit Gesichtswasser und Cremes zu malträtieren.
Chloé stellt das leere Weinglas auf den Tisch, holt die Weinflasche aus dem Kühlschrank und gießt sich ein halbes Glas ein. Schraubt den Deckel zu. Dreht ihn wieder auf, schüttet es voll. Sie betrachtet verstohlen den Flüssigkeitsstand in der Flasche, der bereits verdächtig auf die Hälfte des Volumens gesunken ist. Ein Glas hat sie nur trinken wollen, jetzt war schon wieder über die Hälfte der Flasche alle. Schnell lässt sie sie im Kühlschrank zurückverschwinden. Vielleicht würde sie es ja nicht mal austrinken, dann wäre es heute Abend weniger als eine halbe Flasche Wein. Sie geht in ihr Arbeitszimmer zurück, stellt das Glas neben den Laptop, setzt sich hin. Der Bildschirm ist schon wieder schwarz geworden, sie drückt auf die Taste, gibt das Password ein, ihr Text erscheint wieder. Sie beginnt, ihn noch mal durchzulesen: wo war sie stehen geblieben?
„Mamamama, ich finde meinen Schlafanzug nicht!“ Tim kommt ins Arbeitszimmer gerast. Im Grundschulalter tragen Jungs noch Schlafanzüge.
„Wahrscheinlich da, wo du ihn heute Morgen ausgezogen hast!“, entgegnet Chloé genervt.
„Ne, da ist er nicht! Ich habe mich im Bad angezogen!“
Sie grübelt eine Weile: „Nein, im Wohnzimmer!“
Kurze Zeit Schweigen, dann aus einer anderen Ecke der Wohnung: „Ja, hier ist er, hatte mich auf’m Sofa umgezogen, weil es hier am Wärmsten war!“ Sie seufzt. Wo war sie? Sie liest sich erneut alles noch mal durch, um wieder reinzukommen, nippt wieder am Weinglas.
Sie muss nicht schreiben, sie kann auch einfach tagsüber arbeiten, sich abends um die Kinder kümmern, dann wie alle Mütter ihre Müdigkeit abhängen und ins Bett gehen. Aber sie hatte immer schon den Traum, Journalistin zu werden. Schon als junges Mädchen hatte sie die Artikel in der Cosmopolitan gelesen und gedacht: solche Artikel schreiben! Nach dem Abitur hatte ihr aber der Mut gefehlt, diesen steinigen Weg der Journalistenkarriere zu gehen, bei der Lokalzeitung anzufangen und dort erst mal über das Fußballspiel der A-Jugend Wauke gegen Diepel zu berichten, lange Praktika zu überstehen, kein oder wenig Geld zu verdienen und das vielleicht ein Leben lang und wahrscheinlich dabei dennoch nie einen Artikel in einer renommierten Zeitung zu platzieren. Sie hatte es sich nicht zugetraut. Stattdessen entschied sie sich also für ein handfestes Studium mit Bafög-Unterstützung, hatte in der Zeit Kinder bekommen und sich dann nach dem Studium als alleinerziehende Mutter wiedergefunden. Seitdem jobbt sie sich mit Halbtagsstellen durch, die ihr irgendwie ermöglichen, Kinder und das nötige Geld Verdienen unter einen Hut zu bringen. Sie nimmt wieder ein Schluck Wein. Aber sie hat nie aufgehört zu schreiben. Tagebuch, Blogeinträge im Internet, Kurzgeschichten, auch mal einen Artikel für die Outdoorzeitschrift eines guten Bekannten, viele email Kontakte pflegt sie. Schreiben ist ihr ein Herzensbedürfnis. Auch den einen oder anderen Fachartikel hat sie mal in einer kleinen Zeitschrift untergebracht. Peanuts, alles mühselige, unbedeutende Peanuts. Ihre Freunde sagen ihr: „Hör auf damit, du kannst keine Schreibkarriere machen in deiner Situation!“ Sie haben Recht, sie weiß es, auch sie glaubt nicht daran, weder an ihr Talent noch an ihre Durchsetzungskraft noch an eine reale Chance. Aber sie kann es auch nicht einfach aufgeben, nicht akzeptieren, dass das eben nicht ihre Bestimmung sein soll.
„Mamaaa, Tim hat den ganzen Kakao leergemacht!“ Suzy hat offenbar ihre Pubertätshaut versorgt und ist zum Abendbrot übergegangen.
„Gar nicht wahr, da war kaum noch was drin, weil Suzy sich heute Morgen zentnerweise Kakao reingefüllt hat!“, verteidigt sich Tim.
„Mamaaaa, haben wir noch Kakao irgendwo?“ kreischt Suzy.
„Nein, du musst deine Haferflocken ohne Kakao essen!“ schlägt sie vor und weiß bereits, dass Suzy das vehement ablehnen wird.
„Bäh, das schmeckt nicht! Was kann ich denn dann essen?“, nörgelt ihre Tochter.
„Brot? Wie Tausenden von Deutschen abends?“. Ihre Stimme ist inzwischen in einen sarkastischen Unterton abgeglitten, dieser Vorschlag ist reine mütterliche Provokation.
„Brot? Abends? Bist du verrückt? Brot erinnert mich immer an Schule, ans Pausenessen!“ kontert Suzy, „gibt es noch was anderes?“
„Ey, Leute, der Kühlschrank ist voll! Da ist auch Joghurt, Müsli,….“. Sie steht entnervt auf. Nach langem Hin- und Her lässt Suzy sich überzeugen, dass sie Bananenquark zum Abendbrot isst, den Chloé aber erst zubereiten muss. Jetzt will Tim auch welchen. Während Tim sich den Quark reinschaufelt und ein Comic durchblättert, hängt Suzy vorm Handy und sieht ihren Lieblings Youtuber. Chloé hat ein schlechtes Gewissen. Sie müsste ihren Kindern ein geregeltes Abendessen anbieten. Gemeinsam um den Tisch, Handy und Comics weg, sie fragen, wie ihr Tag war. Aber sie hatte für sich nur diese wenigen Momente. Morgens Kinder, tagsüber arbeiten, nachmittags und abends wieder Kinder, sie selbst fällt hinten runter. Den ganzen Haushalt hatte sie ja auch am Hacken. Wo bleibt man als Mutter in so einem Leben? Wenn man Kinder bekommt, gibt man seine eigenen Bedürfnisse einfach ab. Man läuft ab da nur neben sicher selbst her und erfüllt seine Pflicht.
Das Telefon klingelt. Sie geht nicht ran. Ihre Kinder wissen das, lassen es auch klingeln. Sie geht abends nie ans Telefon, sie hat den ganzen Tag geredet, sie hat keine Lust mehr. Vielleicht ist das aber auch eine Ausrede, vielleicht hat sie bloß Angst, man hört ihrer Stimme an, dass sie zu viel getrunken hat! Keiner weiß, dass sie abends oft zu viel trinkt. Überhaupt abends immer was trinkt, alle halten sie für eine vorbildlich gesund lebende Frau, tut sie sonst auch. Keiner, wirklich keiner ahnt etwas, nicht mal ihre besten Freunde. Aber sie hält den Abend sonst nicht durch, sie ist immer schon ab späten Nachmittag müde. Eigentlich könnte sie jeden Tag um sechs abends ins Bett, aber das geht nicht, es gibt ja noch so viel zu tun, wenn man Mutter ist. Seit ein paar Jahren schlägt sie sich außerdem mit rheumatischer Arthritis herum, seitdem macht sie noch weniger Sport, wegen der Schmerzen. Überhaupt fühlt sie sich immer müde und erschöpft. Eigentlich schon morgens, wenn sie aufsteht. Dann fragt sie sich, wie sie den Tag herumbekommen soll, bis sie abends endlich wieder ins Bett darf.
Sie geht zum Laptop zurück, fährt ihn wieder aus dem Ruhemodus hoch und nimmt dabei ein Schluck Wein. Liest sich wieder durch, was sie geschrieben hat. Wie wollte sie noch mal weiterschreiben? Ihr Kopf ist gerade leer. Oder zu voll, aber mit anderen Dingen. Eigentlich hat sie auch den Abend nicht für sich. Sie hat gar keine Zeit für sich. Wenn hier endlich Ruhe ist, ist sie selbst so am Ende, dass sie auf allen vieren ins Bett kriecht. Und nicht einschlafen mag, weil sie weiß, dass sie am nächsten Tag wieder aufstehen muss. Sie trinkt wieder etwas aus dem Glas, das inzwischen halb leer ist, obwohl sie noch immer keinen Satz weitergekommen ist. Ach ja, jetzt findet sie den Faden wieder, nachdem sie sich zum dritten Mal alles wieder durchgelesen hat. Haut in die Tasten. Ein Absatz ist geschafft, sie ist wieder drin.
Lärm aus dem Esszimmer. Suzy und Tim streiten sich. Sie versucht, es zu ignorieren. Es wird lauter. Sie nimmt einen Schluck. Wein hilft ihr, zu fokussieren, alles um sie herum auszublenden, darum trinkt sie. Sich jetzt nicht rausbringen lassen, sie hat’s gerade. Sie tippt schneller, sie muss es drin haben, bevor sie wieder rausgerissen wird und es weg ist. Sie hört von fern ein anklagendes: „Mama! Mammmaaa!! Suzy versucht …“, aber Chloé lässt sich nicht ablenken, sie tippt. Der Lärm des Streits wird lauter. Sie nimmt einen weiteren Schluck. Ihre Hände schweben innehaltend über den Tasten. Jetzt nicht rauskommen aus dem Flow! Tim kommt ins Arbeitszimmer reingerast.
Vorbei. Sie lässt die Hände in den Schoß sinken, sieht wehmütig auf den Bildschirm. Auf das fast leere Weinglas. Sie fühlt sich tief verzweifelt. Sie steht auf, sucht Tim neue Reinigungstaps für seine Zahnspange heraus, während er seine Zähne putzt. Sie bringt ihn ins Bett. Kuss, noch ein Kuss. Sie sollte es genießen, bald wird es vorbei sein, dass dieser Junge einen Kuss von der Mama will, aber sie ist nur ungeduldig, müde, erschöpft, versucht in einer Gedankenwarteschleife nicht zu vergessen, wie sie gleich weiterschreiben will, sie spürt den Alkohol, der sie langsam benommen macht. Riecht ihr Sohn nicht, dass sie zu viel Wein getrunken hat? Merkt ihre Tochter nicht, dass Mama abends immer angetrunken ist? Ist sie dafür noch zu jung, um das zu verstehen? Oder lebt sie so sehr in ihrer eigenen Welt der Pubertiere, dass sie auf ihre Mutter sowieso nicht achtet? Irgendwann werden sie sich vielleicht zurückerinnern und im Nachhinein einen Verdacht schöpfen: hat unsere Mutter damals nicht viel zu viel getrunken? War sie nicht eigentlich fast jeden Abend leicht besoffen? Sie läuft jedes Mal rot an vor Schamesröte, wenn sie sich das vorstellt. Schon für ihre Kinder sollte sie endlich damit aufhören, sie hat Vorbildfunktion!
Sie geht ins Arbeitszimmer, holt das Glas, in dem nur noch ein dunkelroter dreckiger Rest schwimmt, der bösartige Ränder und Flecken auf dem Grund hinterlässt, geht zum Kühlschrank… sie kauft aus Spargründen nur Billigwein: und der ist nur eiskalt überhaupt trinkbar. Bei einer Flasche alle zwei bis drei Tage kann sie sich den guten Biowein für 4,99 nicht leisten. Sie hatte das mal auf den Monat umgerechnet, da war ihr schlecht geworden. Manchmal schafft sie auch dreiviertel Flasche an einem Abend. Heute zum Beispiel. Sie schenkt sich mit unerträglich schlechtem Gewissen ein. Manchmal ist es auch eine ganze Flasche. Aber nicht heute Abend. Sie geht in ihr Arbeitszimmer, stellt das Glas ab. Sie hat noch nicht davon getrunken und sie sollte es nicht mehr trinken. Eine halbe Flasche ist genug! Sie schreibt weiter, endlich etwas Ruhe, auch wenn Suzy noch nicht im Bett ist, aber die hängt mit ihrem Handy auf’m Sofa. Sie trinkt in kleinen Schlucken, aber ihre Hände werden schwerer. Sie vertippt sich immer öfter. Es geht immer langsamer, ihre Hände suchen wie durch zähen Sirup behindert die Tasten. Sie kommt nicht auch nicht auf den Punkt, was sie schreiben wollte. Die fokussierende Wirkung des Alkohols hat der Lähmenden Platz gemacht.
„Mama, ich brauch‘ 12,90 Euro!“ Suzy steht im Türrahmen. Sie schreckt hoch. „Was? Wofür?“ „Deutschlektüre. Schulz macht ne Sammelbestellung für die Klasse und sammelt morgen das Geld ein.“
„Morgen? Ich habe kein Geld im Portemonnaie! Kannst du mir sowas nicht früher sagen?“ Chloé versucht, ihrer Stimme einen klaren Ausdruck zu geben, während sich ihre Zunge bereits leicht pelzig anfühlt.
„Wieso hast du nie Geld im Portemonnaie?“, nörgelt Suzy, „andere Eltern haben immer Geld.“
„Andere Eltern haben auch genug! Wir haben Ende des Monats, eigentlich wollte ich gar kein Geld mehr bis zum nächsten Ersten ausgeben!“ Chloé fühlt sich angegriffen, dabei ist es Suzy die Letzte, die an ihrer Misere Schuld ist. Sie ist schon wieder weit im Minus auf dem Konto, wieder hatte das Geld nicht gereicht. Die Schwere der Geldsorgen schwappt wieder auf sie über, es fühlt sich an wie eine heiße Welle, die von unten bis hoch in den Kopf steigt und sie wie Blei zu Boden drückt. Sie weiß, wie sehr Suzy darunter leidet, dass sie arm sind und schon einen tiefen Komplex ihren Freundinnen deswegen ausgebildet hat. Niedergeschlagen und entmutigt fährt Chloé den Laptop runter. Sie geht Zähne putzen, eine dunkelrot-braune Brühe kommt aus ihrem Mund, ihre Zunge ist von der Gerbsäure des Billigweins gruselig lila eingefärbt. Sie krabbelt ins Bett, hat nur noch eingeschränkte Gewalt über ihren Körper, sie lässt sich ins Kissen fallen. Sie schließt sie Augen. Es dreht sich leicht. Sie wird so nun schnell einschlafen, nachts vielleicht um drei aufwachen, das Sorgenkarussell wird anspringen, die belastenden Gedanken an den fast ausgereizten Dispo werden wieder von ihr Besitz ergreifen, sie wird sich in Grund und Boden schämen für ihren Alkoholkonsum, für ihre Schwächen, für ihre Fehler, die sie als Mutter ständig macht, für ihr nicht-genug-sein in allen Bereichen, sie wird vor fünf nicht wieder einschlafen können und dann um sechs, wenn der Wecker klingelt, mit Kopfschmerzen aufwachen, wie aus einem Komazustand. Und schwören, dass sie aufhört. Dass sie am nächsten Abend nichts trinken wird. Endlich abends wieder Yoga macht und mit einer Tasse Tee schreiben wird, oder einem Glas Saft, einem Zitronenwasser. Sie würde sich schwören, dass das letzte Mal war, dass sie wie ein fremdbestimmter Roboter in den Getränkemarkt steuert und sich erneut eine Flasche kauft, als wäre es stärker als sie. Sie hat nie mehrere Flaschen auf Vorrat zuhause, denn am nächsten Tag würde sie ja aufhören damit, endgültig aufhören! Oft holt sie sich dann auch nur eine 250 ml Flasche, damit sie nicht so viel trinkt. Aber die gibt es nicht überall. Sie wechselte die Geschäfte regelmäßig.
Aber morgen, morgen würde sie die Kraft finden und den Willen, endgültig Schluss damit zu machen! Sie schwört es sich! Morgen! Sie fällt in einen ungesunden Schlaf.
(2017)