Romanfragment, neu überarbeitet 2021

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(Leseprobe, 20 Minuten Lesezeit)

Prolog

“Fangt sie, los doch, da, unter dem Schrank sitzt eine. Aber zerquetscht sie nicht, sonst frisst Lucifer sie nicht mehr!“, brüllte Fridjof und spuckte dabei vor Aufregung feine Tröpfchen in seinen Bart. „Ja, und da, auf dem Rand des Erlenmeyerkolbens ist noch eine, und da, auf dem Aktenordner.“

„Gleich krabbelt sie rein!”, schrie Sander aus vollem Halse.

Das Schreien schien ihnen der Situation die nötige Dramatik zu verleihen.

“Quatsch, du Dummkopf, diese blöden Viecher krabbeln fast nie, und wenn, nur ganz langsam. Die hüpfen immer nur und bestimmt nicht in den Ordner rein!“ Sanders Zwillingschwester Enja wusste immer alles besser, zumindest zu dieser Zeit, als sie beide noch sechs Jahre alt waren.

Gerade befanden sie sich auf der Jagd nach den Stenobothus lineatus. Also eigentlich auf der Jagd nach dem Fressen für Lucifer. Eigentlich hätte er sie selbst jagen sollen, aber das Chamäleon Lucifer saß oben auf seinem Terrarium und glotze in die Gegend. Oder auf die Kinder und ihren Vater Fridjof. Oder nach den ausgebüchsten Heidegrahüpfern. Das weiß man ja bei einem Chamäleon nie, wo es gerade hinsieht, da es die Augen unabhängig voneinander bewegen kann. Lucifer machte immer den Eindruck, als könne er auch mit jedem einzelnen Auge noch in jeweils unterschiedliche Richtungen blicken.

Fridjof hatte das Chamäleon angeschafft, weil er gehofft hatte, dass die Menschen, vor allem die Kinder, wieder öfter in sein Museum kämen. Das hatte kurzfristig funktioniert, aber den Besuchern war dann das kleine hübsche Teppichchamäleon doch schnell wieder langweilig geworden. Es bewegte sich kaum, so dass man nie sah, wie es die Farbe wechselte. Außerdem ist es ein Irrglaube, dass Chamäleons nur die Farbe wechseln, um sich dem Untergrund anzupassen, oft ist es eher ein Balzverhalten und da Lucifer allein war, gab es für ihn nicht viel zu balzen.

Ehrlich gesagt wussten sie nicht mal genau, ob Lucifer überhaupt ein Männchen war. Es hieß bloß Lucifer, weil sein lateinischer Name Furcifer lateralis lautete. Der kleine Sander hörte immer bloß „Lucifer“ heraus, weil das ein Wort war, das er irgendwo her kannte.

So hieß es dann “Lucifer”. Lucifer war kein Publikumsstar für potenzielle Museumsbesucher geworden, aber die beiden Kinder des Museumsdirektors liebten ihn, obwohl Lucifer sie sogar immer wieder kräftig mit seinen Kletterkrallen zerkratzte, wenn sie es aus den Jalousien puhlen wollten, in denen es feststeckte, um ihn in seinen Käfig zurückzusetzen. Er war selten in seinem Terrarium. Meistens saß er obendrauf, oder eben in den Verstrebungen der Plastik-Jalousien oder kroch am Tischbein hoch, das Sander und seine Schwester mit Kreppband umwickelt hatten, damit er sich besser dran festhalten konnte. Und um das Tier zu ernähren, hatte der Vater dann Futterinsekten gezüchtet. Da das Chamäleon anfangs noch klein war, musste das Futter eine maulgerechte Größe haben. So brachte Fridjof von einer seiner naturwissenschaftlichen Exkursionen die Stenobothus lineatus mit, kleine Heidegrashüpfer. Diese züchtete er dann im Museum weiter und vermehrte sie. Das war für ihn kein großes Problem gewesen. Der Vater der Kinder war Entomologe, Insektenforscher, Spezialgebiet Heuschrecken. Also, er ist es heute immer noch, obschon er inzwischen über 70 ist. Entomologe ist auch kein Beruf, es ist eine Berufung. Man ist Insektenforscher wie man ein überzeugter Christ oder genialer Künstler ist.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Heuschrecken entfleuchen würden, wenn sich zwei Sechsjährige darum kümmerten, zumindest die eine oder andere von ihnen. Aber dies war eine Katastrophe größeren Ausmaßes, denn das Heuschreckenterrarium war über Nacht offengeblieben. Die Tür – ein gazebespannter Rahmen an selbstgezimmerten Scharnieren – hatte sich gelöst und war aufgeklappt und alle Heuschrecken nach und nach aus dem Terrarium gesprungen. Fridjof war kein besonders guter Handwerker. Wie vielen, die auf einem Gebiet sehr begnadet sind, fehlte ihm jegliches Geschick für andere Dinge.

Sie fingen nicht mal die Hälfte der Viecher wieder ein und das hatte weitreichendere Folgen, als man annehmen sollte. Denn seitdem gingen seltsame Dinge im Museum vor, schien es. Oder war es mit dem Zeitpunkt gewesen, als Enja und Sander von Lucifer gebissen wurden? Keiner weiß es heute mehr genau, Fakt ist: Irgendwann gab es mysteriöse Begebenheiten in dem Museum, indem auch die Wohnung der Zwillinge im Untergeschoss lag, wo sie mit dem Vater allein lebten, seit ihre Mutter früh gestorben war.

Kapitel 1: Warmer Zwiebelgeruch auf formaldehydgetränkter Haut

(34 Jahre später) Sander liegt unbeweglich und faul im Bett, die Hände auf der Brust gefaltet und starrt an die Decke, während er sich an dieses Kindheitserlebnis erinnert – vielleicht, weil er die Heimchen zirpen hört, und zwar nicht nur im Garten, sondern auch hinter dem Schlafzimmerschrank. Heimchen – eine, zumindest früher mal weit verbreitete, einheimische Grillenart – hat sein Vater Fridjof nach den ausgebüchsten Heideheuschrecken gezüchtet, weil er hoffte, dass die sich dann einfach im Garten ansiedeln, falls sie entfleuchten, anstatt wie diese Heidegrashüpfer jahrzehntelang im Museum ihr Unwesen zu treiben. Denn das tun sie bis heute, ohne dass man Exuvien, also ihre abgestreiften Hüllen, oder vertrocknete tote Tiere findet, es ist verrückt! Als hätten sie ein ewiges Leben. Eines der Mysterien dieses Museums, das damals mit Einzug des Chamäleons, der Aufzucht der Heuschrecken und Lucifers Biss der Kinder begann. Allerdings heißen die Heimchen “Heimchen”, weil diese Grillen sich gern mal in Häusern ansiedeln – so jetzt bei Sander in seiner Wohnung.

Sander räkelt sich, zieht die Decke ein Stückchen höher unter das Kinn und lauscht dem Gezirpe der Grillen hinter den Möbeln.

Er zieht das Duftgemisch von Zwiebeln, Porree und seinem warmen Körper unter der Decke hoch in seine Nase. “Ich liebe warme Gerüche. Selbst unangenehme sind mir warm lieber als kalt”, fährt es ihm durch den Kopf. Er hat gestern für Christin gekocht, und der Saft von Zwiebeln und Lauch hat sich in seine rauen Hände eingegraben. Er überdeckt sogar den Geruch von Formaldehyd und Desinfektionsmittel aus seiner Tierarztpraxis. Nach Christin riecht es unter der Decke aber nicht. Er weiß nicht, wonach sie gerade riecht – vielleicht nach der Knoblauchbutter, nach dem Rotwein, von dem sie gestern Abend viel zu viel getrunken hat und bestimmt nach dem Rest des Parfums, das sie ihm zu Ehren aufgetragen hatte und das er nicht zu würdigen wusste, so wie er die ganze Christin, nebst ihres exquisiten Geruchs nicht zu würdigen weiß. In jedem Fall kann er sich vorstellen, wie sie gerade aussieht: rote verweinte Augen, vielleicht noch weiträumig schwarz umrandet von verwischtem Kajal.

Von der Gardinenstange kommt ein Knacken, der Vorhang bewegt sich leicht. Langsam tastet sich Lucifer hervor. Eben dieser Lucifer, wegen dem Fridjof die Heideheuschrecken und später dann die Heimchen gezüchtet hat. Jetzt krabbelt er in Zeitlupentempo von der rechten Fensterecke oben zur linken. Auch er hat die Grillen gehört – nicht die im Garten, sondern die hinter dem Schrank. Auch Lucifer lebt noch immer, genauso mysteriös mit ewigen Leben ausgestattet wie die Heideheuschrecken im Museum. Sander hat Lucifer aus dem Museum zu sich geholt, weil sein Vater Fridjof damit inzwischen völlig überfordert ist. Das Chamäleon sieht Sander erst mit einem Auge, dann mit dem anderen vorwurfsvoll an und sofort ist das schlechte Gewissen Christin gegenüber wieder da, warum, weiß er nicht. Lucifers Blick hat immer etwas Vorwurfsvolles und einem fällt dann immer sofort etwas ein, wo man irgendwann irgendwie irgendwo gefehlt hat. Lucifer ist wie ein wandelndes schlechtes Gewissen.

Seufzend kriecht er unter der warmen Decke hervor. “Ich bin ihrer nicht würdig. Oder ich weiß sie nicht zu würdigen. So oder so, sie hat Recht. Sowohl das eine als auch das andere stimmt. Klar habe ich gehofft, sie nach dem gestrigen Abend heute Morgen in meinem Bett zu finden, irgendwo nach riechend, auch nach ihrem Parfum, wenn es sein muss, und mit schwarzen Rändern unter den Augen von Kajal und Wimperntusche, – verschmiert nicht durch Geheule, sondern durch eine leidenschaftliche Vereinigung, die sich im morgendlichen Anblick eulenartiger Augen als der emotionale Absturz nach einem nächtlichen emotionalen Höhenflug spiegelt”, murmelt er vor sich hin, während er ins Bad schlurft. Seinem Spiegelbild geht er lieber aus dem Weg, auch ohne verschmierte Wimperntusche sieht er morgens nicht aus wie ein Held, zudem schaut ihm dort dann sein schlechtes Gewissen entgegen.

(….)

Kapitel 2: Alles muss sich ändern, damit es bleibt, wie es ist

Während er über den schmalen Kiesweg durch den alten Park zum Naturkundemuseum geht, grübelt Sanders noch über den verpatzten Abend mit Christin nach.

Ihm entfährt ein tiefer Seufzer und eine alte Dame, die ihren kreischenden Enkel hinter sich herzieht, sieht ihn böse an. Sie scheint seinem lauten Seufzer eine Kritik an ihrem unwilligen Enkel zu entnehmen. Sander lächelt sie gequält, aber versöhnlich an.

Hinter der nächsten großen Linde taucht das alte Museum auf. Auf dem Werbeflyer, der im Touristenbüro ausliegt oder dem Banner ihrer Internetpräsenz wirkt das Gebäude riesig und langgestreckt, wie ein kleiner Palast aus dem 18.Jh. Wenn man jedoch live davorsteht, sind die meisten Besucher fast enttäuscht, denn es wirkt dann wie zusammengeschrumpft. Dennoch es ist ein hübscher Bau über drei Etagen: In der Mitte ist ein kleiner dicker Turm mit einer großen Holztür in einem geschwungenen Portal und an beiden Seiten zwei kleine Fenster. Rechts und links erstrecken sich symmetrisch der Ost- und Westflügel mit je fünf hohen runden Fenstern mit weißen Verstrebungen. Oben im Dachgeschoß mit niedrigen, schrägen Decken lagern alte Exponate und ein Teil des Papierarchivs. Dort haben Sander und seine Schwester sich immer versteckt und Streiche ausgeheckt, gelesen, Karten gespielt, sich Geschichten ausgedacht, die sie dann nachgespielt haben. Alles ist dort verwinkelt, mit alten verstaubten Museumsstücken zugestellt, der ideale Ort für kindliche Geheimverstecke. Dort haust auch Fridjof in einem kleinen Zimmer wie der arme Poet von Caspar David Friedrich, nur nicht im Bett über Gedichten, sondern am Tisch über sein Binokular gebeugt.

Sander drückt die alte Eingangspforte auf, tritt in den kleinen runden Flur und geradeaus durch die nächste Tür, neumodisch aus Glas, gegen die seine Hündin Dipsy schon seit Jahren rennt, weil sie einfach nicht kapiert, dass da was ist, wo sie nichts sieht.

Gudrun sitzt an dem winzigen Eingangstresen. Erfreut sieht sie zu Sander auf. Gudrun ist seit über 20 Jahren im Museum Sekretärin, Foyerfrau, Kartenverkäuferin, und überhaupt Mädchen für alles.

“Sander, wie schön dich zu sehen. Aber was führt dich heute hier her, ist die Praxis nicht auf?” Gudrun sieht ihn erstaunt an. Sie kennt die Kinder seit sie zehn Jahre alt sind und hat sie ins Herz geschlossen.

“Nein, habe ich dicht gemacht wegen massiver Flohinvasion!”, antworte er trocken.

Gudrun zuckt zusammen.

“Neinnein, Spaß, heute ist geschlossen wegen Urlaubs”, beruhigt er sie schnell, ”Mein Sohn kommt heute Nachmittag aus Australien wieder, da habe ich bis Ende der Woche die Praxis geschlossen.”

Gudrun ist sichtlich erleichtert, es hätte nämlich durchaus der Wahrheit entsprechen können.

“Ist Papa oben?”, frage er sie.

“Ja, in seinem Bino-Zimmer. Ach, Sander, nimmst du gleich die Post mit zu ihm hoch?”  Gudrun drückt Sander einen Stapel Umschläge in die Hand, die er durchblättert, während er die große, ausladende Steintreppe hochläuft, die sich in einem weiten Bogen nach oben erstreckt. Er hält sich dabei immer nahe an dem dicken Steingeländer, wo die Stufen am engsten sind und deren Breite er aus dem FF kennt. Hunderttausende Male ist er diese Stufen zum Dachgeschoß gelaufen, wo die Binokulare, Mikroskope und sonstigen Laboreinrichtungen stehen.

“Guten Morgen, Sander!”, hört er die beleidigte Stimme des Wildschweins unten im Flur hinter ihm herrufen, das neben dem ebenfalls ausgestopften Wolf steht und an denen er gerade achtlos vorbeigelaufen war.

“Ja, guten Morgen, Herr Dr. Tierarzt. Grüßen wir jetzt nicht mehr?”, brummelt der Wolf.

Sander dreht sich zerstreut um.

“Oh, Tschuldigung, war in Gedanken! Alles gut?!”, erkundigt er sich und täuscht dabei Zerknirschtheit vor.

“Klar, Jungchen, was soll auch schiefgehen, wenn man hier seit 150 Jahren ausgestopft rumsteht?!”, grummelt wieder der Wolf.

“Naja, weiss nicht … Motten?“, fragt Sander unschuldig.

“Gott bewahr’s!!”, quiekt entsetzt das Wildschwein, “das wäre ja schlimmer als Flöhe!”.

“Na, die bekommst du verstaubter, stinkender Fellabtreter eh nicht mehr!”, lästert der Wolf. Sander eilt noch schneller die Stufen hoch, bekommt aber dennoch mit halbem Ohr mit, wie die beiden in einen ihrer endlosen Streits verfallen, an dessen Ende der Wolf dem Wildschwein androht, solle er je wieder mal lebendig werden, er es mit Haut und Haaren verspeisen würde, selbst, wenn es nur aus altem Stroh bestünde! Wann die beiden ausgestopften Museumsstücke, die jeden Besucher, der die Eingangshalle betritt, sofort aus großen Glasaugen anglotzen, angefangen haben zu reden – und sich zu streiten-, wissen die Kinder nicht mehr genau, aber es war ungefähr zu dem Zeitpunkt, als damals die Stenobothus lineatus ausgebüchst sind und Lucifer die beiden Kinder kurz darauf in die Finger gebissen hat, als sie versuchten, es ersatzweise mit Fliegen und Spinnen zwangszufüttern. Aber nur Sander und seine Schwester können die ausgestopften Tiere reden hören. Gudrun dagegen hält es für eine Macke aus der Kinderzeit, dass Enja und Sander immer noch, nach drei Jahrzehnten, jedes Mal die beiden ausgestopften Tiere begrüßen, wenn sie das Museum betreten. Aber das Museum ist eben voll mit Mysterien. Nicht nur die ausgestopften Tiere reden hier, sondern es zirpen seit der Flucht der Heuschrecken jede Nacht aus irgendwelchen Ecken und Schränken und Winkeln die Heidegrashüpfer. Und das nun seit 30 Jahren und für jeden hörbar. Heuschrecken haben, wie Vögel, ihren ganz eigenen charakteristischen Gesang. Unmöglich konnte diese Grashüpferart im Museumsgebäude überlebt und sich vermehrt haben, auch draußen im Park hätten diese an die Heide und Trockenrasen angepassten Heuschrecken nicht überlebt. Genauso seltsam ist, dass Lucifer noch immer lebt. Teppichchamäleons werden selten älter als 7 Jahre.

Für Enja und Sander ist das aber längst normal geworden, auch wenn es ihrer wissenschaftlichen Ausbildung völlig widerspricht – seine Schwester hat Biologie studiert, während er sich für Veterinärsmedizin entschied -, aber es ist eben ihr altes Museum und hier hatte es immer schon gespukt.

Sander blättert auf dem Weg nach oben den Stapel Post durch und bleibt bei dem Brief vom Bundesfinanzministerium hängen. Ihm schießt das Blut in den Kopf und er reißt sofort den Umschlag auf. Genau was er befürchtete: Sie mussten die Coronahilfen vollständig zurückzahlen. “Sie” heißt eigentlich das Museum, aber das Museum, das sind sein Vater, seine Schwester und er, auch wenn nur ihr Vater als Leiter juristisch eine Verbindung zu ihm hat. Die Rückzahlung wird ihnen das Genick brechen und sie werden letztendlich dazu gezwungen sein, das Museum doch zu schließen. Es schreibt seit Jahren rote Zahlen. Ach, Jahren, seit Jahrzehnten! Darum ja damals die Anschaffung des Chamäleons. Aber irgendwie ging es doch immer weiter, es gab Fördergelder, außerdem vor allem Spenden, dann immer noch einige Besucher und Veranstaltungen, sowie kleinere, von extern finanzierte Projekte – bis zur Coronakrise und dem Lockdown, da ging alles den Bach runter.

Er stößt die Tür zum “Bino-Raum” auf, einer der kleinen niedrigen Räume direkt unterm Dach, wo mehrere Binokulare und ein Mikroskop stehen, letzteres so alt, dass es noch von Anton van Leeuwenkoek aus dem 17 Jh. stammen könnte – wenn nicht doch Robert Hooke im Jahre 1665 der eigentliche Erfinder war. “Aber es funktioniert, wie noch immer die Glühbirne von Edison im Museum von Edison & Ford Winter Estates“ brennt. Oder tut sie es inzwischen nicht mehr?”, fragt sich Sander. In seinem “Was-ist-was” Buch stand es aber noch so. Er hat sie verschlungen, die “Was-ist-was”, als er ein Junge war. Manchmal hat sie ihm Enja, die viel früher als er gut laut lesen konnte, vorgelesen und selber eine Menge davon gelernt, auch den ganzen Kram über Mathematik und Physik.

“Hallo Papa, das Ministerium hat geschrieben, es geht um die Bewilligung – oder besser Nichtbewilligung – der Fördergelder”, begrüßt er seinen Vater ohne Umschweife. Die Zwillinge besuchen ihren Vater oft im Museum, sind in den letzten Jahren wenigstens ein- bis zweimal in der Woche hier. Papa begrüßt ihn gar nicht erst, das täte er aber auch nicht, wenn er seinen Sohn mehrere Wochen nicht gesehen hätte.

“Ach, die sollen mich in Ruhe lassen! Was wissen die schon von dem historisch-wissenschaftlichen Wert eines Museums, das seit 200 Jahren existiert! Mit Exponaten, die auch schon 200 Jahre alt sind!!!”, brummelt sein Vater wütend, während er versucht, unter dem Binokular einer Zikade das Geschlechtsteil mit zwei Pinzetten zu zerrupfen, weil man bei den Viechern meist nur über die genitalmorphologische Bestimmung – also über die Geschlechtsteile am Ende des Insektenkörpers – herausbekommt, um was für eine Art es sich genau handelt. Und meistens braucht man dazu den “Penis” des Zikadenmännchens, während sich Weibchen schwerer oder gar nicht bestimmen lassen.

“Wie bei den Menschen”, hat Marina lachend gesagt, als ich ihr das erklärte. “Man erkennt die Männer sofort am Schwanz-Gehabe, aber die Weibchen bleiben unergründlich, selbst unter’m Binokular,” hat sie sich mokiert.

Sander findet das wieder komplett übertrieben und nicht mal besonders lustig.

Neben seinem Vater am Binokular liegt der Atlas der “Zikadenarten Deutschlands” von Remane/Wachmann. Immer noch arbeitet er mit dem komplett veralterten Ding, dabei gibt es seit vielen Jahren ein neues Standardwerk von Biedermann/Niedringhaus mit Unmengen an Bestimmungstafeln. Aber Vater war altbacken und out of date wie alles in diesem angestaubten Museum.

“Äh, ja, Papa, genau das ist das Problem. Die Exponate sind uralt! Kein Mensch will die ganzen aufgespießten Schmetterlinge von 1889 mehr sehen, die Vitrinen mit den nachgestellten Biotopen mit gruselig schlecht ausgestopften Vögeln, die schief auf den verstaubten Birkenzweigen hängen und an den dilettantisch geformten und schlecht bemalten Tümpeln aus Pappmaché stehen. Sich die endlosen Schubladen ansehen mit getrockneten Käfern und Zikaden, die so klein sind, dass sie wie aufgespießte Krümel aussehen, mit mikroskopisch kleinen handgeschriebenen Zettelchen mit Tinte und einer Schrift, die keiner mehr lesen kann…“

“Papperlapapapp, wer was von Naturwissenschaften versteht, findet das auch faszinierend!!“ giftet er zurück.

“Papa, selbst Naturwissenschaftler können dem Krempel oft keinen Reiz mehr abgewinnen…”

“Ach, das liegt daran, dass die heute alle so hoch spezialisiert sind! Die Biologen hängen heute über genetischem Material invasiver Schwimmblasen-Nematoden, können aber in der freien Natur keine Fliegenmade von einem Mehlwurm unterscheiden!”

“Nicht mal eine adulte Fliege von einem Käfer,” seufzt Sander. “Papa, so ist es heute halt, du kannst die Entwicklung nicht ändern, wir müssen das Museum ändern.”

“Ich ändere gar nichts!”, fährt sein Vater ihn an.

“Dann wird das Museum dichtmachen müssen und alle deine schönen uralten Exponate werden im Müll landen!”

“Nur über meine Leiche!” Sein Vater wird blass.

“Dann eben über deine Leiche, Papa!”, gebt Sander wütend zurück.

Es ärgert ihn, wie starrköpfig und uneinsichtig sein Vater ist, wenn es um das Museum geht, er will nicht begreifen, dass es einem Wunder gleichkommt, das es noch nicht geschlossen ist, er hält es im Gegenteil für einen Beweis, dass es auch weiter gut gehen wird.

„Sander, ich verstehe dich nicht!“ blafft er zurück: „Hängst du etwa nicht an all den Sachen hier im Museum? Wie kannst du sowas sagen!“

“Ob ich an dem Museum hänge?!”, denkt Sander.“Ja, zum Teufel, an allem, was hier drin ist, an jeder aufgespießten Wanze, jedem in Alkohol eingelegten Rattenembryo und natürlich an all‘ den ausgestopften Tieren! Unsere ganze Kindheit haben wir mit ihnen geredet, ich höre sie immer noch schwatzen und gackern: Das Schneehuhn, das in derselbe Vitrine mit dem Rebhuhn (dem es in freier Wildbahn nie begegnen würde) über die Löffelente in dem gegenüberliegenden Glasschrank lästert, den Zaunkönig, der schief auf dem Haselbuschzweig sitzend schimpft, man solle ihn gefälligst endlich richtig drehen, unterstützt vom Rotkehlchen, das ihn bemitleidet, das seltene Exponat einer ausgestopften Trottellumme, die auf dem (mit Kalk dargestellten) vollgeschissenen Pappmaché-felsen sitzt und über seinen Stuhlgang jammert. Und natürlich an dem Wolf und dem Wildschwein in der Eingangshalle. An allen hänge ich, mir wird schwindelig bei der Vorstellung, dass die alle in einem Müllcontainer landen! Aber darum muss ja was passieren, damit das nicht passiert!”

„Doch, Papa, natürlich hänge ich an all‘ dem… mehr noch, als du dir vorstellen kannst“, antwortet Sander traurig und verzweifelt.

Bisogna cambiare tutto affinché nulla cambi – wir müssen alles ändern, damit alles bleibt, wie es ist“, denkt Sander. Außer diesem Zitat aus dem Roman „Il Gattopardo“ von Tomasi di Lampedusa fällt ihm leider auch nichts wirklich Brauchbares ein, wie man dieses uralte Museum retten kann. Er geht hinunter in die mittlere Etage ins Büro, macht dort die anderen Briefe auf: Rechnungen, Hinweise auf Veranstaltungen anderer Museen und Vereine, Werbung. Letzteres kommt sofort in den Müll, ersteres legt er Gudrun in die Ablage “Zu erledigen”. Die anderen Briefe schmeißt er auf den kleinen runden Tisch, neben dem ein Stuhl steht. Dieser kleine runde Tisch aus den 50ern und der Plastikklappstuhl stehen dort, seit er denken kann. Und seit er denken kann, hat da noch nie einer gesessen. Irgendwann muss er Gudrun mal fragen, wer die da eigentlich jemals hingestellt hat und zu welchem Zweck. Den Brief der Behörde steckt er ein, er wird später bei Enja vorbeigehen und mit ihr drüber reden. Er sieht auf die Uhr, bekommt wie zu erwarten einen Schreck, nie kann er die Zeit abschätzen, er muss los zum Flughafen! Er nimmt die Treppe immer mit zwei Stufen auf einmal rennt an dem Wildschwein und dem Wolf vorbei, die noch immer gestritten haben und nur unterbrechen, weil sie ihn herunterstürmen kommen sehen.

Hey, Sander, was ist los, wirst du vom Säbelzahntiger verfolgt?” ruft ihm der Wolf entgegen.

“So alt bist du schon, dass du den noch kennst?” kontert das Wildschwein, der Wolf wird sofort wieder sauer, und Sander kommt umhin, ihnen eine Antwort geben zu müssen. Er grüßt im Vorbeifliegen Gudrun, hetzt durch den Museumspark zu seinem alten Auto, indem es nach Hund, Kuh und Schaf riecht, die Polster sind übersät von Stroh, Tierhaaren und Erde, friemelt das Knöllchen von der Windschutzscheibe und öffnet die leicht verrostete Tür, die quietschend aufklappt. Ihm kommt der Eiskratzer entgegen, der in dem vollen Seitentürfach war, er tritt drauf, es macht “knack”. “Egal, wird jetzt eh Sommer”, denkt er und wirft die drei Einzelteile in den Fußraum des Beifahrersitzes. Sein Handy vibriert in der Hosentasche. Das ist sicher sein Sohn Jaron, der schon gelandet ist und er, Sander, ist noch nicht mal raus aus der Stadt, geschweige denn in der Nähe des Flughafens.

(Ende der Leseprobe)