Szene 2 aus „Alte Liebe rostet nicht

„Jutta!?“ Manfred kommt in Unterhose und strahlend weißen, aber am Saum unterschiedlich geringelten Tennissocken zu ihr in die Küche, „Wo ist meine Sporthose?“

„Weiß ich nicht“, antwortet Jutta ungerührt, ohne von ihrer mit Mehl bestäubten Arbeitsplatte aufzusehen. Manfred sieht sie verdutzt an.

„Wie, weißt du nicht? Du weißt doch sonst immer, wo alles liegt.“

„Nein, nicht immer! Und wo deine Sachen liegen schon mal gar nicht!“ Ihre Stimme wird ein Tick spitzer und schärfer. Ihm wird es leicht mulmig zumute. Es liegt offenbar etwas in der Luft, aber sicher ist er sich nicht. Er beobachtet sie einen kurzen Moment. Nein, doch nicht, ihre Miene ist ungerührt, sie ist nur konzentriert. Oder? Ach was, was soll schon sein? Er ist sich keiner Schuld bewusst. Er findet sein übliches freundliches Gesicht wieder.

„Du, ich brauch‘ die echt, Olaf holt mich gleich zum Joggen ab und ich muss noch dringend vorher diesen Bericht eintüten.“

„Dein Problem.“ Jutta bearbeitet weiter mit unbeteiligter Miene einen Klumpen Hefeteig. Sie walkt und knetet ihn, rhythmisch, konzentriert, ernst.

„Äh, ehm, hast du denn vielleicht eine Idee, wo sie sein könnte? Hab´ schon alles durchgesucht, auch in der dreckigen Wäsche ist sie nicht. Nicht mal da.“ Manfred wird jetzt doch misstrauisch.

Jutta nimmt den Teigklumpen und knallt ihn einmal gekonnt auf die Platte, „Nein! Keine Idee!“, und wirkt ihn nochmal kräftig durch.

Er runzelt die Stirn und geht im Kopf alle eventuellen Verfehlungen durch, die er seit … seit …. (wann war sie das letzte Mal nett und freundlich gewesen?) begangen haben könnte. Ihm fällt nichts ein, aber er erinnert sich auch nicht, wann sie das letzte Mal überhaupt miteinander geredet hatten. Heute Morgen? Nein, wie immer ist sie vor ihm aufgestanden und hat ihre Morgenroutine absolviert: Ein Glas Alon Vital Puder in Wasser aufgelöst trinken, die am Vorabend vorbereitete Kaffeemaschine anstellen, während die durchlief kurz in die Dusche springen, saubere Klamotten hat sie auch immer schon am Vorabend parat gelegt. Am Ende stellt sie ihm immer eine Tasse Kaffee auf den Nachttisch und geht mit einer eigenen in ihr Arbeitszimmer. Heute Morgen? Hat er einen bekommen. Da ist die Welt also noch in Ordnung gewesen. Da er es hasst, im Bett etwas zu trinken, ist für ihn die Tasse mit dem heißen Gebräu das Zeichen, aufzustehen. Er schlurft dann immer mit dem Becher in sein Arbeitszimmer und fährt den PC hoch. Einen Teil der Arbeit macht er von zuhause, heute diesen Bericht zu Ende schreiben.

Verdammt, wo ist diese verfluchte Sporthose? Er will gleich mit Olaf bei DHL vorbeijoggen und den Bericht abschicken. Er vergisst Jutta und geht weiter auf die Suche. Er durchwühlt den Wäschestapel auf seinem Stuhl neben dem Bett. Jeder hat dafür seine eigene Ablage. Jutta hat das mal eingeführt, weil sie genug von seinem Wäschechaos hatte. Wenn sein Stuhl überquillt, die ersten dreckigen Socken und T-Shirts auf den Boden fallen, dann schmeißt Jutta ihm alles auf seine Bettseite. Das ist für ihn das Zeichen: Wasch Wäsche! Wie der Kaffee am Bett ein Zeichen ist: Aufstehen. Im Laufe ihrer langjährigen Ehe haben sich viele solcher Zeichen eingebürgert und er hatte tatsächlich einige verinnerlicht, aber erst nach sehr langer Übung. Aber jetzt hat er keine Zeit zum Wäschewaschen, er schmeißt alles zurück auf den Stuhl, die Hälfte fällt erneut herunter, er sammelt es wieder auf und schmeißt es drauf, wieder fallen drei Socken und ein Pullover herunter. Er macht eine genervte Handbewegung. Später!

„Jutta, weißt du wirklich nicht, wo die Hose sein könnte?“, ruft er in seiner Verzweiflung in die Küche.

Schweigen. Er geht zurück zu ihr in die Küche. „Jutta?“

„Dann jogg‘ doch in Unterhose! Die haste wenigstens schon an!“, faucht sie und sieht ihn das erste Mal an. Manfred zuckt zusammen, als habe sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Schnell zieht er sich zurück. Wenn sie so drauf ist, ist er ihr nicht gewachsen. In einem aufgebrachten Wespennest sollte man besser nicht auch noch rumbohren. Bloß jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen! Wo kann diese Hose sein? Er wird sie schon finden. Wo hatte Jutta das letzte Mal seine Turnschuhe gefunden? In der Vorratskammer! Er läuft hin – nein, nichts außer das, was hier hingehört. Sein Hemd, das hatte sie das letzte Mal unter dem Bett hervorgezogen. Er krabbelt auf Knien halb unters Bett und zieht alles heraus, was er findet: Eine Seite der FAZ, ein Kugelschreiber, einen Pantoffel (ach, hier war er), einen Tennisball (wo zum Teufel kam der her?) und eine Socke. Hä, trägt er diese Socken nicht gerade? Er guckt auf seine Füße. Ach ne, nur eine davon hat er an, die andere passt gar nicht dazu! Außerdem ist die eine frisch gewaschen, die andere nicht. Er sucht zwei passende in der Sockenschublade, wo er neben seinem Terminkalender, den er schon länger sucht, seine Sportshorts findet. Kurzentschlossen zieht er die an, zwar etwas kalt im März, aber besser als nur Unterhose. Während er noch den Bund zuzieht, klingelt es auch schon. Olaf. Er schnappt sich schnell seine Laufschuhe, die ausnahmsweise dort stehen, wo sie hingehören, und macht Olaf auf.

„Hey, bei dir ist schon der Sommer eingekehrt?“, ruft Olaf lachend aus, als er Manfred in kurzer Hose erblickt.

„Ey, hör bloß auf, hier, halt mal, das müssen wir gleich zur Post bringen!“ Er drückt Olaf den Umschlag und den Bericht in die Hand. Schnell schnürt er die Schuhe zu und zieht Olaf aus der Tür.

„Was ist denn los?“

„Dicke Luft!“

„Warum?“

„Weiß ich eben nicht!“

„Hast du euren Hochzeitstag vergessen?“

„Den vergesse ich doch nicht!“

„Wann ist denn euer Hochzeitstag?“

„Öhhh…“

„Mann, du wirst doch wissen, wann euer Hochzeitstag ist!“

„Ja, klar weiß ich das! Also, jedenfalls nicht im März. Im Hochsommer haben wir geheiratet. Ich weiß noch wie hübsch Jutta in ihrem weißen Kleid mit den Spaghettiträgern und dem tiefen Dekolleté aussah …“.  Ihm wird ganz sehnsüchtig zumute. Wie schön sie gewesen ist. Ist sie auf ihre Art eigentlich immer noch, außer, sie ist sauer auf ihn.

„Vielleicht hast du nicht bemerkt, dass sie beim Friseur war?“, versucht es Olaf weiter, während die beiden die Straße runter zum DHL-Shop joggen.

„Ne, das war es nicht.“

„Was für eine Frisur hatte sie denn heute?“

„Öh …“, Manfred erinnert sich nicht. Irgendwie eben hochgesteckt, wie immer. Sie laufen zu DHL rein. Stellen sich hinter eine alte Dame, die ein Paket unbedingt noch als Päckchen abschicken möchte und sich mit der Verkäuferin streitet.

Olaf bohrt weiter, er kennt das Problem von seiner Helena. „Hast du irgendwo was rumliegen lassen, was sie gestört hat?“

„Mensch, Olaf, ich lasse immer überall was rumliegen … Wenn wir uns deswegen jedes Mal streiten würden, wären wir längst geschieden.“

„Stimmt!“ Olaf lacht laut auf und die alte Dame dreht sich um.

„Lachen Sie über mich, junger Mann?“, fährt sie ihn scharf an.

„Nein, nein, um Gottes willen!“, beeilt sich Olaf zu sagen, der wie Manfred längst kein junger Mann mehr ist.

„Hast du irgendwas nicht erledigt, was du ihr versprochen hast?“, flüstert Olaf. Manfred flüstert zurück:

„Das passiert mir doch dauernd, aber dann erinnert sie mich so oft dran, bis ich es mache.“

„Vielleicht etwas, an was sie dich schon mehrmals erinnert hatte?“

Manfred grübelt weiter. Den Müll rausbringen? Hatte er das getan oder stand der noch immer im Flur?

„Olaf, als du mich gerade geholt hast, stand da ein Mülleimer neben der Tür?“

„Weiß ich doch nicht. Bin ich eine Frau, der solche Details auffallen?“ Olaf sieht Manfred kopfschüttelnd an.

Endlich ist die alte Dame fertig, sie hat beschlossen, das Paket wieder mit nach Hause zu nehmen und umzupacken, damit es für ein Päckchen reicht. Sie wirft Olaf aber noch einmal einen bösen Blick zu. Manfred gibt den Umschlag ab und beide joggen weiter Richtung Fluss.

 „Hast du eine heimliche Affäre und sie hat davon Wind bekommen?“, überlegt Olaf weiter.

„Ich doch nicht!“

„Nein, stimmt, nicht du. Und wer würde dich auch nehmen, außer Jutta?“

„Na, jetzt hör aber auf!“

„Sorry.“ Olaf ist mit seinem Latein am Ende. „Tut mir leid, Kumpel, du wirst sie fragen müssen.“

Manfred beißt die Zähne zusammen. Das ist genau das, was er vermeiden will. Er weiß gern vorher, was kommen wird, anstatt unvorbereitet den Segen über sich ergehen zu lassen. Schweigend joggen sie nebeneinander am Flussufer entlang. Manfred sieht über das Wasser hinweg. An dieser Stelle ist es sehr tief und die Oberfläche scheint glatt und ruhig, aber gerade da ist die Strömung besonders stark. Hier wäre letztens fast ein Hund ertrunken als er sich dummerweise hineinwarf, um eine Ente zu jagen. Hunde waren entgegen dem, was einige behaupteten, auch nicht mit besseren Instinkten ausgestattet als Menschen.

„Hund!!“ Manfred wird plötzlich heiß, trotz der kurzen Sporthose bei zehn Grad.

„Olaf, ich muss zum Tierheim! Das war‘s! Ich hatte Jutta versprochen, dass ich dort heute Vormittag den Hund abhole, den wir uns letzten Monat ausgesucht hatten!“

„Hund? Ihr?“, fragt Olaf verdutzt.

„Ja, so ein kleiner, süßer Bastard, bei dem man nicht weiß, ob Hund oder Meerschwein. Ihr ist das so wichtig, jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind!“ Manfred dreht ab, grüßt den verdutzten Olaf und rennt im schnellen Dauerlauf Richtung Tierheim.

Als er schnaufend mit dem kleinen Köter nach Hause kommt, quietscht Jutta vor Freude auf. „Du hast es doch nicht vergessen!“

„Klar habe ich es nicht vergessen! Ich musste bloß schnell den Bericht fertig machen und hatte geplant, dann nach dem Joggen mit Olaf am Tierheim vorbeizulaufen. So war der Kleine gleich schon mal raus!“ Manfred weiß genau, dass Jutta genau weiß, dass das komplett gelogen ist. Sie knuddelt den Hund und murmelt glücklich: „Deine Sporthose liegt übrigens geknuddelt unter deinem Schreibtisch. Du hast sie beim letzten Mal, als du joggen warst, dort ausgezogen, als du vor dem Youtube-Video über die heiligen Affen in Indien hängengeblieben bist. Hoffentlich hast du dich nicht erkältet mit den Shorts. Du musst jetzt jeden Tag mit ihm Gassi gehen.“ Manfred grinst glücklich und streichelt dem Hund über die Ohren.

Szene 3: Gassi gehen