Kurzgeschichte, 2018


Bilder gehen mir durch den Kopf, nicht Worte. Aber ich möchte ihr kein Bild malen, sondern ein Gedicht schreiben. So ein richtig kitschiges, romantisches, wo ich alle meine triefende Verliebtheit reinpacke, an dem sie festklebt und mir nie wieder entkommt. Ich sehe von meinem Notizheft hoch. Mit den Bildern kommen nun auch meine Gefühle hoch, an denen ich festklebe. Und mit den Gefühlen Gerüche, die mich einpacken. Und mit den Gerüchen körperliche Empfindungen, die mich nicht mehr loslassen. Ich spüre dieses Kribbeln, wie ein Schauer über meinen Nacken und Rücken gleiten. Ich rieche ihre Haut, als ich sie gestern umarmte. Nun ja, durch den dicken Pullover hindurch war es wohl weniger ihre Haut, eher der Weichspülergeruch ihrer Kleider. Lenor „Frühlingsbrise“. Den kenne ich, weil ich denselben benutze. Vielleicht kommt daher das Gefühl, dass wir etwas Tiefgreifendes gemeinsam haben: weil sie riecht wie ich. Weil ihre Wäsche riecht wie meine. Übrigens kam das Kribbeln sicher auch eigentlich durch den Wind, der aufzog, als sie mich umarmte und der mir kalt den Nacken streifte.
Ich seufze.
Mit dem rechten Mittelfinger schiebe ich meine Lesebrille wieder hoch auf die Nasenwurzel. Ich hatte sie auf die Nasenspitze hinuntergezogen, um die Umgebung auf mich wirken zu lassen. Ein verlassener Ort, dieser enge Hinterhof des halb verfallenen Bungalows, der mal meiner Tante Marlene gehörte. Vor zehn Jahren erbten ihn ihre drei Geschwister, als sie kinderlos an einer Lungenembolie starb. Gedankenverloren lasse ich erneut meinen Blick über den Hof gleiten, bleibe an der alten, verrosteten Leiter hängen, die zur niedrigen Dachrinne führt. Sie wurde ständig benötigt, um von dem Flachdach das Wasser abzuschöpfen und im Herbst die verwelkten Blätter aus der Dachrinne zu entfernen. Jetzt lief sie über und im Haus begann das Wasser durch die inzwischen undichte Decke zu sickern. Seit Marlenes Tod war keiner mehr hochgeklettert. Wieder tauchen Bilder in mir auf: Marlene, wie sie hier in diesem Hof an der Leiter gelehnt stand und nervös rauchte. Den rechten Arm eng unter der Brust verschlungen, als ob sie beständig fröre und den Linken angewinkelt an den Körper gedrückt, mit der Hand immer ganz in Lippennähe, damit sie schnell ihre Züge nehmen konnte. Dann pustete sie nervös und hektisch den Rauch nach oben rechts. Oder war es links? Ich verfalle ins Grübeln. Sie benutze immer das blaue ausrangierte Plastikbötchen von mir als Aschenbecher, das noch immer am Fenstersims voll mit aufgequollenen Zigarettenstummeln steht. Da ich wieder die Lesebrille Stärke 2.5 komplett vor die Augen geschoben habe, sehe ich die Leiter, das blaue Plastikbötchen, das alte Holzfass, auf das Marlene immer ihre Kaffeetasse abstellte, etwas verschwommen. Ich spüre etwas in der Hose. Oder besser am Hosenboden: Nässe. Ich sitze auf der Gartenliege, die meine Mutter hier letzten Sommer hingestellt hat, mit einer grünen Plane als Witterungsschutz, auf der sich eine Regenpfütze gesammelt hat. Ein Dartspiel hängt an der gegenüberliegenden Wand, ein fruchtloser Versuch meines Onkels, seine Enkelkinder für diesen Ort zu begeistern. Aber dies ist kein Platz für Kinder: der enge Hof mit den vermoosten Steinplatten, durch dessen Ritzen Löwenzahn und Spitzwegerich spriest und in dem die Mauern mit Farn und Efeu zuwachsen. Innen ist der Bungalow duster, Putz bröckelt von den Wänden, von den alten 50er Jahre Möbel von Marlene löst sich langsam das Plastikfournier ab. Es riecht irgendwie immer noch nach kaltem Rauch in den engen Zimmern, auch zehn Jahre nach Marlenes Tod.
Keiner der Geschwister möchte das Haus wirklich haben, aber verkaufen wollen sie es auch nicht. Es ist sowieso nichts wert, würde mehr Ärger als Profit einbringen.
Eigentlich ist es jetzt ein grusliger Ort. Mir läuft wieder ein Schauer über den Rücken! Warum bin ich bloß hergekommen?
„Was hat mich geritten zu glauben, ich könne hier, ausgerechnet hier ein Liebesgedicht für Isabell schreiben?“, murmele ich laut vor mich hin.

„Na, weil dies ein ruhiger Ort ist, mein Jungchen! Es kommt ja sonst keiner her!“
Ich fahre bei der wohlbekannten Stimme aus längst vergangenen Tagen in mich zusammen. Marlene kommt durch die Küchentür in den Hof, geht auf ihren typischen Platz an die rostige, ans Dach angelehnte Leiter und friemelt eine zerknüllte Zigarettenschachtel aus der Tasche. Mit vor Schreck runtergeklappten Unterkiefer starre sie an. Ich ziehe mir entsetzt die Lesebrille von der Nase, die sich in meiner Nervosität mit den Bügeln hinter den Ohren verhakt.
„Herr Gott, Kai, reiß‘ dir nicht die Bügel ab, oder noch schlimmer, die Ohren!“ lacht Marlene. Ihr raues Lachen. Gleich wird sie husten. Vor ihrem Tod hustete sie bereits jahrelang chronisch. Und auch jetzt hustet sie tatsächlich wieder. Sie hält sich den Rücken der linken Hand gegen den Mund, indem sie schon das Feuerzeug umschlossen hält. Ein altes Wegwerf-Feuerzeug, auf dem groß: „Spar“ aufgedruckt ist. Gibt es den Laden überhaupt noch? Gab es den vor zehn Jahren noch? Krampfhaft überlege ich. Solche Gedanken sind wohl eine Art Übersprungshandlung, so wie sich ein Hund hinter dem Ohr kratzt, wenn er eigentlich verlegen ist. Sie hat inzwischen eine Zigarette aus der labbrigen Camel-Packung geholt. Es ist so eine Packung aus den 70er, 80er Jahren weich, nichts weiter drauf als dem Kamel und dem Schriftzug des Namens, ohne aufgedrucktem Schockfoto einer schwarzen Lunge oder von verstümmelten Gliedmaßen. Wo hat Marlene die jetzt her? Kurz vor ihrem Tod gab es längst die Packungen mit den gruseligen Bildern aufgedruckt. Sie ist dann auch tatsächlich mit so einer schwarzen Lunge wie auf den Zigarettenpackungsbildern gestorben und viel qualvoller, als jede Bilderwerbung auf der Verpackung das je rüberbringen könnte! Sie zündet sich eine Zigarette an. Ich fühle wieder das gleiche Entsetzen wie damals, als ich noch ein Junge war.
„Tante Marlene, hör‘ endlich auf mit dem Rauchen! War dir dein Sterben nicht Lehre genug? Elendig erstickt bist du mit dieser Embolie!“, fahre ich sie plötzlich verzweifelt an.
Sie nimmt einen tiefen Zug, klemmt wieder ihren linken Arm unter die Brust, ballt die Faust und hält den rechten Arm angewinkelt an die Seite gedrückt. Die Hand mit der qualmenden Zigarette nahe an ihrer Wange. Sie pustet den Rauch aus. Rechts schräg nach oben.
„Ach, Kai, das ist doch jetzt gar nicht mehr wichtig. Ja, das Sterben war schlimm, das stimmt. Aber das Morphin war gut. Hätte ich vielleicht viel früher ausprobieren sollen, anstelle des Nikotins. Mich hat die Kippe umgebracht, jetzt lass sie mir auch!“
„Aber ..“
„Kai…,“ sagt Marlene mild lächelnd,“ lass gut sein. Wirklich. Jetzt kann ich ja nicht mehr sterben. Alles gut! Glaub mir! Sag mir lieber, wieso du hier so verloren auf der Strandliege rumsitzt, die deine Mama so unpassend hier reingestellt hat. In diesen engen Hof kommt doch fast nie richtig Sonne.“
Ich sehe nach unten auf die Liege, spüre wieder den nassen Fleck an meiner Hose. „Ja, stimmt, nur im Hochsommer zur Mittagszeit kommt hier mal Licht rein. Bist du darum so depressiv gewesen?“
„Ich? Depressiv? Ich war doch nicht depressiv!!“, ruft Marlene aus. „Naja, gut, vielleicht etwas niedergeschlagen, ab und zu.“
„Du warst depressiv!“, insistiere ich.
„Ey, komm, Kai, lass gut sein! Beantworte mir endlich meine Frage! Wieso sitzt du hier, mit Block und Stift? Wer ist Isabell, für die du ein Gedicht schreiben willst? Als ich gestorben bin, gab es noch keine Isabell. Zumindest hast du nichts erzählt.“
„Ne, Isabell habe ich gerade erst kennen gelernt…“
„Und? Du bist schwer verliebt?“
„Mh, ja, weiß nicht. Ich denke.“
Meine Tante sieht mich skeptisch an und bläst den Rauch unwirsch durch den rechten Mundwinkel. „Was heißt, ‚du denkst‘? Wenn du es bist, dann weißt du es, wenn du es nicht weißt, dann bist du es nicht.“
Ich schaue sie an. Ist das so einfach? War es bei Marlene je so einfach gewesen?
„Hast du Franz geliebt?“, frage ich plötzlich, aus einer inneren Eingebung heraus. Sie stutzt, zögert, zieht noch einmal kurz nervös an dem Rest der aufglimmenden Zigarette, die fast am Filter angekommen ist und drückt sie dann in dem blauen Spielzeugboot aus. „Was soll die Frage jetzt? Wir waren bei deiner Isabell!“
„Ich möchte es aber wissen: hast du Franz geliebt?“
„Weiß ich doch nicht! Keine Ahnung!“ fährt sie mich unwirsch an. Mir liegt ein „Siehste!“ auf der Zunge, aber ich will keine Polemik auslösen, sondern wirklich wissen, was eigentlich mit Franz los war und fahre unbeirrt fort: „Er hat dich aufgebahrt, als sie dich aus der Klinik ins Leichenhaus brachten. Sein Chef aus dem Bestattungsinstitut hat alles versucht, ihn zu überreden, dass es jemand anders macht, damit nicht Franz seine eigene Geliebte für deren Beerdigung fertig machen musste. Aber Franz hat drauf bestanden. Wuchsteufelswild wurde er, als man ihn erst nicht lassen machen wollte.“
„Ja, ich weiß…, sagt Marlene.
„Wie, du weißt? Du kannst das nicht wissen, du warst bereits gestorben“. Ich sehe sie fassungslos an.
„Natürlich! Eben. Ich war doch dabei.“
„Dabei, ja, natürlich, aber doch als … als Tote!“
„Hey, ich stehe doch jetzt auch hier vor dir, oder?“, lächelt sie mich an.
Mir wird leicht schwindelig, das übersteigt alles meine Vorstellungskraft.
„Aber, ich meine, wenn jede Leiche, also wenn jeder tote Mensch, den Franz aus- und angezogen hat, geschminkt, für die Beerdigung aufbereitet hat, das alles … das kann doch nicht sein.“
„Doch, und Franz wusste das. Darum hat er das auch immer besonders liebevoll gemacht. Erst seit ich tot bin, verstehe ich ihn endlich. Habe ich endlich begriffen, warum er diesen seltsamen Beruf ausgeübt hat.“
„Du willst mir sagen, Franz wusste, dass alle Toten genau mitbekommen, was mit ihnen passiert? Hat er darum mit ihnen geredet? Sie fast naja, zärtlich berührt?“
Marlene nickt.
„Weißt du, dass Franz gekündigt wurde?“, sage ich unvermittelt. Jetzt ist es endlich an Marlene, erschrocken zu gucken, alles weiß sie offenbar nicht.
„Wie? Echt? Aber wieso…?“
„Schon vor zehn Jahren, direkt nach deinem Ableben. Ihm wurde vorgeworfen, dass er auf eine ‚perverse Art und Weise‘ einer Toten gegenüber ‚unziemliche Handlungen vorgenommen habe‘ – So der Wortlaut des Kündigungsschreibens.“
Marlene kneift die Lippen zusammen und murmelt: „Aber er hat mich doch nur noch einmal umarmt und geküsst. Viel zärtlicher als jemals zuvor, als ich noch lebte!“ Sie fängt an zu schluchzen. Ich fühle mich hilflos, weiß nicht, was ich machen soll. Kann man eine Tote zum Trost umarmen? Einen Leichnam ja, aber eine Tote?
„Weißt du, wo er jetzt ist?“, schnieft sie.
„Ja, da, wo du bist. Oder besser, sein solltest… schon lange. Er hat es dann nicht mehr lange gemacht.“
Marlene hört schlagartig auf zu schluchzen. „Potzblitz! Dann kann ich ja lange hier rumsuchen!“ Sie wird hektisch. „Kai, tut mir leid, ich muss gehen. Ich muss ihn also woanders aufspüren.“ Sie dreht sich abrupt um, schmeißt fast das Plastikbötchen mit den Kippen runter. Dann wendet sich noch mal kurz zu mir: „Vergiss, was ich gesagt habe. Man weiß nie, ob man einen Menschen liebt oder nicht. Tu einfach, wozu es dich treibt. Die Frage, ob es Liebe ist, ist dabei völlig unerheblich.“ Sie verschwindet im Haus.
Ich starre ihr nach, spüre das Notizheft in meiner Hand wie einen Fremdkörper. Nehme wieder den nassen Fleck am Hosenboden wahr. Es beginnt zu nieseln. Diese Sonnenliege hier in den Hof zu stellen war wirklich eine unpassende Idee von meiner Mutter.