Szene 1 aus „Alte Liebe rostet nicht“

„Manfred, wir müssen noch mal nachmessen!“ Jutta stand sich am Türrahmen zu seinem Bürozimmer und sah ihn streng an.
„Ach, das sehe ich auch so, ob das passt!“ Ohne sich vom Monitor zu ihr hinzudrehen, streckte Manfred seinen Arm aus, machte eine Faust, kniff ein Auge zu, und drehte den aufgerichteten Daumen hin und her.
Sie rollte mit den Augen. Es würde nicht passen, wenn er das mal wieder Pi mal Daumen kaufte, das war klar wie Klossbrühe!! Entnervt machte sie kehrt, kramte in der Schublade im Flur, im Regal in der Vorratskammer, wo auch das Werkzeug lagerte, in ihrem Nähkästchen. Wo war dieses verdammte Metermass schon wieder? Wie ein aufgescheuchtes Huhn rannte sie durch die Wohnung.
„Jutta, nun komm endlich!! Sonst macht das Geschäft zu“, rief Manfred. Nicht etwa aus dem Hausflur, wo er bereits gestiefelt und gespornt gestanden hätte, sondern noch immer aus seinem Büro, wo er noch immer an seinem Computer sass. Noch immer in Pantoffeln.
Ha! Hier war es, in der Küchenschublade, zwischen dem Messerschärfer und den Brottüten. Das war garantiert Manfred gewesen, kein normaler Mensch hätte das Metermass dort hineingelegt. Jutta war schleierhaft, wie sie das wieder gefunden hatte, manchmal hatte sie das Gefühl, sie könnte sich in Manfreds Kopf beamen und dort abgespeicherte Informationen abfragen, die ihm selbst nicht mehr bewusst waren. Mit wehendem Mantel und klackernden Absätzen – sie war bereits fertig zum Rausgehen – mass sie die Ecke zwischen Fensterbank und Wand aus. Genau 1, 56 cm. Nein, fast 1,57cm, aber man musste ja etwas Spiel lassen. Also maximal 1 Meter 55! Sie nahm einen kleinen Zettel, und schrieb die Zahl auf. Man weiß nie, sie hatte bereits die einfachsten Sachen vergessen!

„Manfred, die Ampel ist rot!“ brüllte Jutta.
„Quatsch, die ist noch fast gelb“, entgegnete Manfred völlig gechillt und bretterte über die Kreuzung mit eindeutig rot leuchtender Ampel.
Gott sei Dank war hier kein Blitzer, schoss es Jutta durch den erhitzten Kopf und murmelte gepresst: „Orange. Man sagt: Die Ampel war orange.“
„Gelb. Bei uns in Oberfranken sagt man Gelb und fast auch im gesamten restlichen Deutschland. Vielleicht bei euch im Sauerland, da sagt man orange. Die sind farbenblind, die saufen zuviel.“
Jutta verkniff sich jeglichen weiteren Kommentar und sah verstohlen zur Uhr: 18.37h. In 23 Minuten schloss das Möbelgeschäft. Manfred hatte noch 17 Minuten gebraucht, bis sie endlich im Auto sassen, nachdem Jutta schon mit Handtasche über der Schulter, Schlüssel in der Hand, dem Zettel mit der notierten „1,56 Breite“ im Portemonnaie und auf der Eingangskommode trommelnden Fingern gewartet hatte.
Manfred parkte vor dem Möbelhaus, während alle anderen bereits wegfuhren. Jutta sprang aus dem Auto und wartete nervös, bis Manfred seine Jacke übergezogen, Portemonnaie und Handy darin verstaut und das Auto abgeschlossen hatte. Bis der mal seine sieben Sachen beisammen hat, dachte Jutta gestresst.
„Hey, nun sei nicht so gehetzt, wir haben noch genug Zeit!“ Sie gingen gemeinsam ins Möbelhaus. Mehr oder weniger gemeinsam, Jutta immer einen eiligen Meter vorneweg, Manfred gelassen knapp hinter ihr her, er hatte nur viel längere Beine als sie, so dass sich das wieder ausglich. Jutta lief zielstrebig auf die Abteilung „Wohnzimmermöbel“ zu, Manfred blieb noch an einem Angebotsposten „Büroschränke“ hängen.
Egal, es müsste eh Jutta in letzte Instanz entscheiden, was für einen Schrank sie kaufen würden. Sie lief mit fokussiertem Blick durch die Reihen mit den Schubladenschränken, blendete sofort alle aus, die zu breit, zu hoch und zu teuer waren. Der, der war’s. Helles Kiefernholz, weitgehend massiv, dennoch bezahlbar, vier Schubladen, Tiefe 1,10, Höhe 1,40, Breite 1,50. Perfekt. Gab es noch 5 bis 6,5 cm Spiel bis zum Fensterbrett. Den würden sie nehmen. Sie dreht sich suchend nach einem Verkäufer um.
„Hier, Jutta, guck mal, der ist doch super!“ hört sie Manfred aus irgendeiner Ecke rufen.
„Manfred, ich habe schon einen gefunden!“ ruft sie in die Richtung zurück, aus der sie meinte, ihn vernommen zu hat.
„Nein, nein, echt, komm mal mit, der ist perfekt!“ Seine Stimme war plötzlich ganz nah. Sie drehte sich erschrocken um, er kam von völlig woanders, als sie ihn vermutet hatte, nämlich aus Büroabteilung. Er packte sie am Ärmel und zog sie mit.
„Aber Manfred, ich habe doch schon einen…“
„Sieh ihn dir erstmal an! Sonst können wir deinen ja immer noch nehmen!“
„Ja, aber das Geschäft macht bald zu, und morgen ist Sonntag, wir wollten den dann doch gleich aufbauen, dass er abends da steht, wenn meine Mutter…“
„Jaja, wir kaufen heute auch einen, versprochen, jetzt guck doch einfach mal!“
„Liebe Kunden, unser Geschäft schliesst in wenigen Minuten. Bitte begeben Sie sich zu den Kassen. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Abend und freuen uns, Sie nächste Woche wieder begrüssen zu dürfen“, hallte die Lautsprecherdurchsage durch die hohen Einkaufsräume.
Manfred zog Jutta hinter sich her, sie fühlte sich unglücklich, wieso tat er ihr das an? Es hätte einfach alles perfekt laufen können, sie hatte trotz der Verspätung, mit der sie im Geschäft angekommen waren, einen Schubladenschrank gefunden, sie hätte nur einen Angestellten fragen müssen, mitnehmen… und jetzt war es zu spät! Wieso war Manfred so? Wieso musste er immer alles anders machen, immer alles auf den letzten Drücker, immer alles nur so ungefähr, immer sich über Regeln hinwegsetzen, wieso konnte er Dinge nie einfach akzeptieren? Wenn das Geschäft zumachte, machte es eben zu, da konnte er sich nicht einfach drüber hinwegsetzen, er war ja auch noch seine Schuld, dass sie so knapp vor Ladenschluss ankommen waren.
„Hier, sieh mal, der ist doch Klasse! So einen habe ich mir immer gewünscht, der sieht aus wie so ein alter Apothekerschrank, mit den quadratischen Schubladen nebeneinander, so weiss gebeizt und den runden Eisenbeschlägen! Und im Angebot ist er auch noch!“
„Ach Manfred, der ist zu gross! Der passt nicht rein!“ jammerte Jutta, kurz vor der Auflösung begriffen. Sie hätte ihn erwürgen können. Alle Kunden bewegten sich bereits zur Kasse. Sie gab es auf, es würde eben keinen neuen Schrank dort geben, morgen würden sie ihre Mutter holen, sie brächten deren grossen Wohnzimmerfernseher mit, den diese nicht mit ins Wohnheim nehmen konnte. Und wohin dann damit? Dieses Teil würde dann irgendwo auf dem Boden herumstehen, und die nächste Woche war so voll, da hatten sie gar keine Zeit. Und ausserdem war es schlimm genug, dass Mutter jetzt in ein Wohnheim ging, und ….
„Wieso, wieviel Platz ist denn da?“ unterbrach Manfred ihre Gedankenkette.
„1,56 cm“, seufzte Jutta. Das hätte er sie doch schon längst mal fragen können.
„Der ist 1,50!“, strahlte Manfred sie an. Er verlor selten seine gute Laune, alles schien doch so einfach im Leben für ihn. Aber das Leben war nicht einfach, es war wahnsinnig kompliziert und mit einem Mann wie ihm, für den nichts kompliziert war, wurde es noch komplizierter.
„Aber die Platte oben drauf. Die ist zu breit!“ Sie holte das Meterband heraus, das sie – natürlich – mitgenommen hatte. Man wusste ja nie. Sie rollte es fachmännisch aus und hielt es an die Platte: „158! Es passt nicht.“
„Glaube ich nicht, ich bin sicher, der passt! Ich sehe, dass der passt.“
„Du siehst, du siehst! Bestimmt nicht auf den Zentimeter genau, es reicht ein halber zuviel, dass er nicht reinpasst! So darf kein Architekt oder Ingenieur vorgehen, …“ – Jutta machte demonstrativ eine Faust mit ausgestrecktem Daumen, mit dem sie etwas in der Ferne anpeilte, „…mit so einem: ‚Pi mal Daumen, es passt schon‘!“, rief sie entnervt aus.
„Irrtum, ein Ingenieur berechnet Rundungen auch nur mit der approximativen Pi-Zahl 3,142 und nicht mit 3.1415926… die ist eh eine irrationale Zahl, wie sollte er das auch machen? Und dennoch passt es.“
Wieso zum Teufel kannte er die vielen Nachkommastellen der Zahl Pi und merkte sie sich? Manfred erstaunte sie immer wieder mit seinem Wissen und seinem Gedächtnis, sie musste sich selbst eine Zahl wie 1,56 aufschreiben, damit sie sie sicher nicht vergass. Hilflos und unglücklich sah sie ihn an.
„Verehrte Kunden, wir schliessen …“, tönte die wiederholte Ansage verschwommen in ihr Ohr. Mit herunterhängenden Schultern stand sie neben ihm. Manfred griff beherzt zu einem der Pakete – da es ein Angebot war, standen die abgepackten Schränke daneben und man musste keinen Verkäufer fragen – und schleppte es zur Kasse. In der Eile hatten sie keinen Caddy geholt. Jutta schlich hinter ihm her, sie gab es auf. Oft gab sie auf mit ihm, er war einfach beratungsresistent und ein Chaot, ohne sie fände er nie was wieder, müsste deswegen alles doppelt und dreifach kaufen, würde er dauernd Mahnungen bekommen, weil er Briefe ungeöffnet irgendwo hinlegte und dann vergass, wäre er dauernd im Verzug mit allem.
„Ohne dich wäre das Leben für mich stressiger,“ pflegte er zu sagen,“ aber es ginge auch ohne dich!“ War das dann als Kompliment gemeint? Oder gar eine Liebeserklärung? Davon bekam sie selten welche. Dass er sie liebte, musste sie immer irgendwie heraushören, sagen tat er es nie. Manfred bezahlte, Jutta schwieg. Sie schwieg die ganze Fahrt nach Hause. Sie wollte sich nicht streiten, sie würden eben den Schrank nächsten Samstag zurückbringen, den Fernseher solange auf den Wohnzimmertisch stellen, da würde er zwar nerven, aber sie waren eh die ganze Woche so eingebunden, dass sie nicht im Wohnzimmer sitzen würden, höchstens mal kurz in der Küche. Es gab immer eine Lösung. Das sagte Manfred auch immer, wenn es auch oft nicht die Ideale und Anvisierte wäre. „Aber manchmal stellt sich im Nachhinein heraus, dass die dann aus bestimmten Gründen letztendlich betrachtet sogar die viel Bessere war“, behauptete Manfred immer. Ja. Mag sein, manchmal, aber nicht mit diesem blöden Wohnzimmerschrank!, dachte Jutta verzweifelt.

Sie bauten ihn noch an demselben Abend auf. Sie waren ein gutes Team bei solchen Dingen, konzentriert gab jeder dem anderen die Hilfestellung, die er gerade brauchte, es reichten wenigen präzise Worte und der andere fand seinen Einsatz: Einer hielt fest, der andere schraubte, der eine überlegte, der andere hatte bereits kapiert. Wie eine Maschine, bei der ein Rädchen ins andere griff, arbeiteten sie zusammen. Der Schrank stand fertig mitten im Wohnzimmer, jetzt würde die Stunde der Wahrheit kommen. Er war hübsch, keine Frage, auch Jutta gefiel er gut, er war schöner als der, den sie ausgesucht hätte. Wenn er nicht passte – und er konnte nicht passen – würden sie einen anderen Platz dafür finden. Sie schoben ihn zu der Ecke, zwischen Wand und Fenster. Vorsichtig stellten sie ihn rein. Er passte.
Er passte, weil die Oberplatte etwas höher als das Fensterbrett war und genau 2 cm darüber ragte. Da der Schrank selbst 6 cm Spiel hatte, passte es auch auf der anderen Seite, wo nun eine Lücke von 4 cm zwischen Wand und Schrank blieb. Soweit hatte Jutta nicht gedacht. Sie hätte eben auch die Höhe vom Boden zur Fensterbank nehmen müssen.
Strahlend stand Manfred vor ihrem gemeinsam zusammengebauten Werk und legte den Arm um die verdutze Jutta.
„Na, was habe ich dir gesagt?“, trompete er fröhlich.
„Das konntest du nicht wissen. Wäre er ein Zentimeter tiefer, dann wäre er so hoch wie das Fensterbrett und dann ginge er nicht rein!!“,
„Stimmt“, gab Manfred gut gelaunt zu, „ist er aber nicht!“
„Und es sieht auch etwas komisch aus, wie die Platte über die Fensterbank ragt…“
„Ach, Quatsch, das fällt kaum auf! Hauptsache, er passt rein. Sieht doch schön aus, oder?“
„Ja, das stimmt, ich mag den Schrank auch, viel zu schade, da jetzt diesen riesigen, ollen Fernseher drauf zu stellen.“ Jutta sah nachdenklich auf das neue Möbelstück.
„Hey, lass uns den Fernseher woanders hinstellen“, Manfred drehte Jutta mit einem Schwung zu sich, „stell‘ lieber eine Vase mit Gräsern und Wildblumen von deinen Spaziergängen hin, du machst das doch immer so schön! Das mag ich eh viel lieber.“ Er sah Jutta erwartungsvoll an.
„Wir brauchen den Fernseher eigentlich gar nicht, unser alter Kleiner reicht doch völlig. Wann gucken wir schon mal Fernsehen?“ Jutta kaute auf ihrer Unterlippe.
„Weisst du was? Schenk ihn doch Tante Lore, die jammert doch immer, dass ihrer zu klein sei und die hängt doch den ganzen Tag vor der Glotze.“
Manfred sah Jutta an. Jutta sah Manfred an. Er grinste und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Komm, lass uns in der Küche noch schnell was essen und ins Bett. Morgen holen wir deine Mutter und ihren Fernseher. Und bringen ihn dann gleich zu meiner Tante.“ Er marschierte in die Küche, zog Jutta hinter sich her, die im Vorbeigehen noch einmal zufrieden über den neuen Schrank strich.

Szene 2: Jutta wo liegt…?

Szene 3: Gassi gehen