Diese Kurzstory entstand aus einer Schreibübung im Rahmen meines Prosa-Fernkurses 2018. Die Aufgabe war eine Erzählung, in der der Protagonist sich in zwei Umgebungen wiederfinden sollte: Einmal in einer ihm vertrauten, gewohnten, und einmal in einer für ihn völlig untypischen, fremden. In meiner Erzählung war die „Protagonistin“ eine Wildsau.

Foto: pexels.com (light wizzi)

Fluchend zog der Jagdaufseher seine verdreckten Stiefel aus, pfefferte sie in die Ecke, dass die Erdbrocken nur so flogen. Für seine Frau Martha unverkennbar: die Treibjagd auf die Wildschweine war erfolglos gewesen.

„Diese verdammten schlauen Biester!“, schimpfte der Jagdaufseher los. „Sie haben uns wieder dran bekommen!“

In der Tat, das hatten sie…

Mehrere Geländewagen mit grün gekleideten Männer waren vorgefahren. Sie stiegen leise aus, lautlos wurden Gewehre abgeladen, Treiberpfeifen und Stöcke verteilt. Ein Teil von ihnen ging damit in die eine Richtung, die ihnen ein besonders wichtig aussehender Mann mit Hut und ernstem Gesicht anzeigte. Der andere Teil, mit geschulterten Gewehren, folgte schweigend dem wichtig aussehenden Mann in die andere Richtung.

Sie konnten noch so leise sein, sich nicht über Zurufe, sondern nur über Zeichen verständigen. Die Wildschweinmutter in der Nähe hatte sie doch gehört und genau gewusst, was es bedeutete! Motorengeräusche im Wald waren nichts Besonderes, aber das waren zu viele Autos gewesen und nur eins hatte das bekannte Brummen des Jeeps des Försters, der täglich hier seine Runden drehte. Dann die Geräusche des Abladens der Gewehre, das wieder Zuklappen der Kofferräume, rhythmisch fast, eine Klappe nach der anderen “Klack! … Klack!…Klack!”. Sie spürte genau die Anwesenheit viel zu vieler Menschen im Wald, die in zwei Grüppchen durch den Wald streiften.

Die Kleinen merkten die Unruhe ihrer Mutter, wurden aufmerksam, beobachteten und lauschten. Die Bache quiekte leise, sofort scharrten sich die Frischlinge, sieben an der Zahl, um ihre Mutter.

Da, es ging los! Pfeifen, Rufen, lautes “Hussa!” und “Heja” erschallte. Es wurde auf Bäume geklopft, die Gruppe der Männer, die in die eine Richtung gegangen waren, zogen mit lautem Lärm durch den Wald, Rehe und Füchse flüchteten in die entgegen gesetzte Richtung vor dem Lärm. Die Frischlinge wollten hinterher, aber ihre Mutter rief sie sofort mit erneutem Quieken zu sich.

Sie spürte genau: Auf sie warteten die Jäger auf der anderen Seite mit ihren angelegten Gewehren im Dickicht. Die Füchse und Rehe würde man verschonen, um sie ging es den Jägern nicht.

Aber die alte Bache war nicht umsonst ein Schwein und das intelligenteste Tier des Waldes, neben den Raben und Spechten. Sie rannte entgegen ihrem eigentlichen Instinkt direkt auf den Lärm zu. Die Frischlinge mussten sich blitzschnell entscheiden, ob sie ihrer natürlichen Angst vor dem Lärm gehorchten oder der Bache! Sie folgten blind ihrer Mutter und zögerten dabei keinen Moment. Sie schossen unter tiefhängenden Ästen hindurch, ein Frischling stolperte über eine Wurzel, rappelte sich auf, wieder seinen Geschwistern hinterher. Die Bache rannte auf die Treiberkette zu, die nichts ausrichten konnten, außer noch lauter rufen. Sie schlug einen Haken rechts an den Menschen vorbei, die Kleinen wie geölte Blitze hinterher, die Treiber grölten, brüllten, fluchten! Querfeldein, immer weiter weg von den versteckten Jägern, die vergeblich auf die Tiere warteten, jagte die Wildschweinmutter mit ihren Kindern davon und keiner würde sie je mehr bekommen!

Der Jagdaufseher sah die Szene sich wieder lebhaft vor seinem geistigen Auge abspulen. „Aber wir müssen die Viecher dezimieren, es werden immer mehr, sie vermehren sich wie die Karnickel! Fressen sich durch den Mais auf den Feldern und werfen inzwischen gleich zweimal im Jahr! Sie richten nur Unfug an!”, wetterte er. Seine Frau sah ihren Mann mit gemischten Gefühlen an. Einerseits fühlte sie mit ihrem Mann mit, andererseits war sie sauer, dass er mit seinen Stiefeln so ein Dreck in den Hausflur brachte. Bevor sie ihn jedoch zurechtweisen konnte, schimpfte er weiter: “Und das nicht nur im Wald! Erinnerst du dich, Martha, letzte Woche, als die Biester sogar in der Stadt waren?” Oh ja, das war was gewesen!

Es war ein furchtbares Tohuwabohu, alle schienen zu quieken, nicht nur die durchgedrehten Vierbeiner. Die Frauen, die gerade in der Unterwäsche auf dem Grabbeltisch gewühlt hatten, warfen vor Schreck BHs und Slips in die Luft. Die Kinder kletterten entsetzt auf Podeste, zwischen halb nackte Schaufensterpuppen , die als Einzige unbeteiligt in die Gegend starrten und dessen entrückender Blick in die Ferne in dem Gewühl aus Panik, Aufruhr und Geschrei umso gespenstischer wirkte.

Die männlichen Kunden wussten nicht, ob sie den Helden spielen sollten oder sich besser in Sicherheit bringen.

 Das aufgebrachte Wildschwein, gefolgt von einer kleinen quiekenden Horde gestreifter Frischlinge, war zuvor durch die Einkaufsstraße gerast, auf ein entgegenkommendes Auto gestoßen. Es war sofort in Panik abgebogen, die Frischlinge hinter ihm her, wie mit einem unsichtbaren Faden an das Mutterschwein gebunden, durch die offenen Türen eines großen Kaufhauses, in die Abteilung Unterwäsche und Parfums. Die Bache brachte mit ihren beeindruckenden 80 Kilo die Ausstellungstische und Regale krachend zu Fall. Hinter ihr zog sich ein Bild der Verwüstung. Die Wildschweine rasten immer panischer durch die Gänge des Kaufhauses, zwischen den Wühltischen und Ständern hindurch, warfen immer mehr um und rissen alles mit sich. Ein rosa Spitzen-BH der Marke Herzog & Bräuer hatte sich um die plüschigen Ohren der Wildschweinmama gewickelt und wehte wie eine Fahne der Infanterie beim Sturmangriff. Ein Frischling verirrte sich in die Erotik-Slipabteilung, verhedderte sich in einem schwarzen Tanga mit durchsichtigem Spitzeneinsatz und Strassteinchen, quiekte erbärmlich und sauste im Zickzack um die Ständer, bis es wieder auf dem Hauptgang angekommen war und in einem Affentempo seine Mutter und die Geschwister einholte.

Die waren inzwischen in der Parfumabteilung angekommen, und nun zog die Horde ein Geruch von Chanel n°5, Armani und Christian Dior hinter sich, vermischt mit einer Menge an billigem Eau-de-Cologne und man wunderte sich, dass die Schweine von dem Gestank nicht ohnmächtig wurden.

Als sie schon fast eine gesamte Runde durchs Erdgeschoss gedreht hatten, liefen sie auf die große Tür der Umkleidekabinen zu, wo ihre wilde Hatz ein Ende nahm: Eine mutige Kaufhausangestellte, die seit ihrer Kindheit von Crocodile Dundee als ihren Traumprinzen geträumt hatte, aber letztendlich selbst viel tougher war als er, schob geistesgegenwärtig ein Pult und einen großen Wühltisch auf Rollen vor den Eingang, so dass die Wildscheinfamilie in den Umkleidekabinen gefangen war.

„Wir brauchten sie einfach nur noch mitnehmen,“ grinste der Jagdaufseher, der bei der Erinnerung an das Geschehene wieder bessere Laune bekam.

Martha zuckte indessen in sich zusammen. Sie hatte ihren Mann nie gefragt, wie eigentlich mit den Wildschweinen weiter verfahren worden war. Jetzt fragte sie sich plötzlich, ob der Wildschweinbraten, den sie gestern gemacht hatte, nicht einen leichten Duft nach Armani und Christian Dior ausgeströmt hatte?