Leseprobe : Romanfragment (Entwicklungs-/Freundschaftsroman, humoristisch, voraussichtlich ca 70.000 Wörter), 2020

Foto: pexels.com (Jonathan Borba)

(Ausschnitte aus Teil 1: Vor dem Lockdown)

Kapitel 1: Erschlagen im Keller von Schloss Hurra

Die ehemaligen Bahnschienen sind inzwischen völlig zugewuchert, nur das alte Bahnhofsschild mit der verblassten Aufschrift ‚Caldenburg‘ steht noch inmitten eines dichten Holunderbusches im Garten. An dem Sandsteingebäude gegenüber, über der großen Eingangstür aus schwerem Eichenholz, ist die Mauer an der Stelle etwas heller, wo einmal das Hotelschild gehangen haben muss. Die alte Tür hat noch immer den Anstrich, der noch aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stammen muss. Die Farbe blättert inzwischen fast völlig ab. Dennis weiß nicht einmal, wie das Hotel damals hieß und er nimmt sich immer wieder vor, ins Stadtarchiv zu gehen und mehr über die Geschichte dieses alten Hauses zu erfahren, das Anfang und Mitte letzten Jahrhunderts sowohl Bahnhof und als auch Hotel für Reisende gewesen war. In der Gegend wurde das Gebäude nur “Schloss Hurra” genannt, aber keiner wusste genau, wieso eigentlich.

Seine kleine Tochter Mia, die er aus der Grundschule geholt hat, rennt über die zugewachsene Wiese auf das alte Gemäuer zu, das jetzt ein Mietshaus mit sieben Einzelwohnungen ist.

“Hallo Dennis! Hi Mia, wie geht’s?”, werden die beiden im Hausflur begrüßt.

“Hallo Thea!” ruft Mia zurück und da ist Thea, die in der gegenüberliegenden Wohnung von Dennis und seiner Familie wohnt, auch schon im Keller verschwunden, um ihr Rad zu holen. 

“Ahhhhh!!!” Ein gellender Schrei von Thea aus dem Keller, in dem sie gerade verschwunden ist. Dennis lässt Mias Ranzen fallen und die Kleine klammert sich an das Bein ihres Vaters. Der versucht, dieses Kind, das nun wie ein Krake an ihm festklebt, abzuziehen und rennt hinunter in den Fahrradkeller. Thea steht kreidebleich vor jemanden, der gekrümmt auf dem Boden liegt. Neben dem gekrümmten Jemand ein dicker Stein. Dennis überblickt sofort die Lage: direkt über dem Menschen ein Loch in der Wand, der Mauerstein musste sich gelöst und auf den Mann gefallen sein, der jetzt regungslos auf dem Boden liegt. Dennis kontrolliert sofort den Puls des Mannes.

“Er lebt noch”, murmelt Dennis mit erstickter Stimme. 

Mia taucht auf der Türschwelle auf, schreit auf und fängt augenblicklich an wie eine Sirene zu heulen. Thea läuft zu dem weinenden Kind und nimmt es in den Arm, während Dennis den Notruf verständigt, der ihn am anderen Ende kaum versteht, weil Mia im Hintergrund so brüllt. Thea schnappt sich die Kleine und schleppt sie hinaus. Sie ist froh, eine Aufgabe übernehmen zu können, die sie bewältigen kann. Ihr erster-Hilfe Kurs ist wie ihre Führerscheinprüfung ein Viertel Jahrhundert her. Dennis ist jünger, außerdem ein Mann und überhaupt in Stresssituation viel besser als sie. Ihr dreht sich in Notsituation immer sofort der Kopf und sie fühlt sich wie ein Huhn im Stall, indem der Fuchs eingebrochen ist. Mia in ihrem Arm beruhigt sich langsam.

“Wer ist das?”, fragt die Kleine leise, zwischen zwei Schluchzern.

“Du, weiß ich nicht, keine Ahnung. Ich habe den noch nie gesehen!”

“Was macht der hier?” will Mia weiter wissen.

“Keine Ahnung! Ich weiß nicht, wer das ist, was der hier will, was passiert ist. Aber wir werden es erfahren!”, beruhigt Thea sie. Thea lässt die Kleine auf den Boden gleiten, nimmt sie an die Hand und lugt um die Ecke des Türrahmens, in den Fahrradkeller. Dennis hat den Mann inzwischen auf den Rücken gedreht und kontrolliert ständig den Puls. Der Mann scheint gleichmäßig zu atmen, eine Animation scheint nicht nötig. Inzwischen gibt er sogar Laute von sich, fängt an, sich zu bewegen. Ein Stöhnen.

“Bleiben Sie ruhig liegen! Der Krankenwagen kommt gleich. Ist Ihnen schlecht? Müssen Sie sich übergeben?”, redet Dennis leise auf ihn ein.

Der Mann gibt Töne von sich, die darauf schließen lassen, dass ihm nicht übel ist, er lediglich Schmerzen hat. Dann hört man die Sirene des Notarztes. Thea läuft nach oben, zieht Mia hinter sich her, während Dennis bei dem Mann bleibt. Wohl ihm ist ihm nicht dabei, aber ihm ist klar, dass das nicht anders geht. Es scheint eine Ewigkeit zu dauernd, bis Thea mit dem Notarztteam zurückkommt und er endlich die Verantwortung für diesen Menschen, den er in seinem Leben nicht gesehen hat, der weiß-der-Teufel-was hier zu suchen hatte, abgeben kann. Der eine Arzt versucht zu erfahren, was passiert ist, aber mehr als auf den Stein zu zeigen, der aus der Mauer dem Mann auf den Kopf gefallen zu sein scheint, kann Dennis auch nicht. Der Krankenwagen nimmt den Mann mit, sie werden später in Erfahrung bringen müssen, wer er ist. Thea, Dennis und Mia bleiben schweigend zurück, während die Sirenen immer leiser und tiefer werden, bis man gar nichts mehr hört. Stille legt sich über das Dreiergrüppchen. Der plötzliche langgezogene schrille Ruf einer Goldammer: “Tztztzztz- Tziiiiiiiiiiiiie!“, reißt Thea aus ihrer Starre.

“Dennis! Kanntest du den?! Was hat der in unserem Keller gemacht?!”

Wortlos schüttelt Dennis langsam den Kopf. Er starrt weiter vor sich hin. Im Notfall hat er es geschafft, zu handeln, jetzt geht ihm im Nachhinein alle Courage verloren. Er fragt sich, ob er alles richtig gemacht hat und der Mann keine Folgeschäden haben wird, weil er, Dennis, ihn vielleicht nicht hätte auf den Rücken rollen sollen. Aber er hatte nicht gewusst, wie er sonst herausbekommen sollen, ob der Mann noch atmete. Thea begreift, dass sie nicht mehr aus ihm herausbekommt. Sie versucht, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie der Mann ausgesehen hat.

“Dennis, wie sah der Typ aus, erinnerst du dich?”

“Weiß nicht, normal halt. Hab’ nicht drauf geachtet,” antwortet Dennis mit monotoner Stimme. Er ist plötzlich wie in Schockstarre.

“Er war etwas älter als ich, würde ich sagen, Mitte 50”, überlegt Thea laut, unbeeindruckt von Dennis’ plötzlichem Phlegma. “Nicht dick, … aber auch nicht dünn. Ja, normal halt. Die Haare konnte ich nicht sehen, er hatte so’ne komische Mütze auf.” Dennis reißt sich zusammen, versucht, wieder zu sich zu kommen und antwortet:

“Stimmt, darum haben wir sicher auch keine Wunde gesehen, die er aber gehabt haben musste, bei dem Brocken, der ihm auf den Kopf gefallen ist.”

“Brille, er hatte eine Brille auf! Also, so halb, die hing irgendwie noch am Ohr und musste abgefallen sein, als du ihn auf den Rücken gedreht hast,” entfährt es Thea, “Die müsste da unten noch liegen!”

In Thea kommt nun richtig Leben. Sie läuft hinunter in den Keller, Dennis dreht sich abrupt um und sieht ihr fragend hinterher. Triumphierend kommt sie mit einer altmodischen runden Intellektuellenbrille zurück, bei der ein Glas zerbrochen und ein Bügel verbogen ist.

“Hier, er hat seine Brille verloren!”

“Ja, und?”, fragt Dennis verständnislos, “Wie bringt uns das nun weiter?”

“Wir können ins Krankenhaus und haben einen Vorwand, den Typen zu sehen!”

“Können wir das nicht sowieso machen, brauchen wir dafür einen Vorwand? Immerhin ist der Typ in unser Haus eingebrochen! A propos, wir sollten die Polizei rufen!”, gibt Dennis zu Bedenken.

“Mh, ich weiß nicht, sollen wir nicht erstmal rauskriegen, was der wollte?”

“Na, hör mal Thea! Der ist einfach ins Haus gegangen und in den Keller und hat da offenbar was gesucht! Und das auf eine Art und Weise, dass sich ein Stück Mauer gelöst hat und ihm auf den Kopf gefallen ist!”

“Klingt in jedem Fall nicht nach einem versierten Einbrecher.” Thea grinst. “Wie kann man so bescheuert sein und sich einen Stein auf den Kopf fallen lassen, wenn man irgendwo einbricht?” Thea findet ihre gute Laune wieder, die bei ihr den Großteil ihres Gemütes ausmacht.

“Nun steht auch immer der Hausflur offen! Lisa hat das schon oft moniert und gesagt, dass das unvorsichtig ist.” Dennis hat sich immer schon gefragt, ob Lisa, die in der Wohnung direkt über ihnen wohnt, nicht recht hatte – was sich jetzt zu bestätigen scheint.

“Na, hör mal, sonst passiert hier auch nie was. Und Lisa wohnt im ersten Stock, die kämen eh erst zu uns ins Erdgeschoss. Die Treppe knarrt ja auch dermaßen laut, dass man gar nicht unbemerkt in die oberen Stockwerke kann. Und nachts machen wir ja zu. Aber es ist echt unpraktisch, auch tagsüber dauernd abzuschließen. Gerade für euch mit Mia, die immer rein und raus rennt”, verteidigt Thea die unabgeschlossene Haustür und alle, die sie tagsüber immer offenlassen, “na, und noch wissen wir ja gar nicht, was der wollte. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung.”

“Fällt dir eine ein?” Dennis guckt sie zweifelnd an.

“Na, vielleicht hat der ganz früher hier mal gewohnt, damals was im Keller versteckt und wollte sich das bloß wiederholen? Ein Einbrecher geht doch nicht in den feuchten Keller und sucht dort nach was Wertvollem, wenn es sieben Wohnungen in dem Haus gibt, mit Türen, die nicht wirklich gut verriegelt und verrammelt sind.”

“Ja, das habe ich mal ein einem Film gesehen, da hat auch einer was in der Küche hinter den Kacheln versteckt…”, mischt Mia sich ein, aber wird von den Erwachsenen nicht wirklich beachtet.

“Was soll der denn da versteckt haben?!” Dennis schüttelt vehement den Kopf. Er hält das für eine bescheuerte Erklärung. Oder? Ihm kommen Zweifel. Er denkt wieder dran, dass er immer schon mehr über dieses Haus in Erfahrung bringen wollte und ärgert sich, dass er das nicht schon längst getan hatte. Wer weiß, welche Geheimnisse sich um dieses Gebäude ranken!

Er will gerade Thea seine Gedanken mitteilen, als er von treckerartigen Geräuschen, die vom dieselbetriebenen alten Auto von Bud kommen, abgelenkt wird.

Bud kommt mit seinem alten Daimler um die Ecke gebrettert, bremst scharf und springt aus dem Auto, soweit sein gewaltiger Bauch das zulässt.

Irgendwann klemmt er noch fest zwischen Lenkrad und Sitz”, denkt Thea gehässig, während Bud in großen, ausladenden Schritten auf sie zu kommt. Er wohnt mit seinem Freund Horst in der ersten Etage, direkt über Dennis.

“Hey, alles in Ordnung? Mir kam ein Notarztwagen entgegen, der schien hier aus der Richtung unseres Hauses zu kommen! Was passiert?”, fragt er aufgeregt. Wenn er erregt ist, rutscht seine sonst tiefe Stimme immer eine Oktave höher. Sein Freund Horst meint immer, Bud könne auch Tenor singen, wenn er denn überhaupt mal anfangen wollte, zu singen. Aber Bud will nicht singen, auch wenn er es natürlich könnte. Und Bud heißt eigentlich auch Martin, aber seit seiner Jugendzeit nennen ihn alle Bud Spencer. Er selbst hält den Spitznamen mit gewissem Stolz aufrecht und sorgte selbst dafür, dass er ihn bis jetzt trägt.

Dennis erzählt ihm ausschweifend, was passiert ist und sucht dabei nach Worten, das Unfassbare würdig zu beschreiben. Thea beobachtet ihn ungeduldig. “Puh, muss er immer so langsam und umständlich reden?”, denkt sie genervt und muss sich zurückhalten, ihm nicht dauernd ins Wort zu fallen, und seine Sätze an seiner statt zu beenden. Irgendwann hatte ihre Tochter Johanna eine Sprachnachricht von Dennis über ein Programm doppelt so schnell ablaufen lassen, und siehe da, die Stimme klang dann zwar doppelt so hoch, aber das Sprachtempo schien endlich normal.

“Wenn Dennis doch auch so einen Knopf hätte, an dem man den Ton schneller drehen könnte”, fährt es Thea durch den Kopf, während sie ungeduldig den Mund auf- und zuklappt, und ihm am liebsten ins Wort fallen würde.

Sie mag Dennis eigentlich, sie weiß ja, wie sehr er immer von Zweifeln gebeutelt ist, und dass er auch darum seine Worte immer genau wählt – er könnte ja ein falsches benutzen -, aber seine langsame Art macht sie wahnsinnig. Dennis spürt Theas Ungeduld.

“Ach, erzähl du weiter!”, blafft er sie verletzt an, was Thea sofort eloquent tut, wenn auch mit einem schlechten Gewissen ihm gegenüber.

Bud hat sofort Lösungen parat und legt den anderen seinen Plan dar:

Man würde jetzt als erstes in den Keller gehen und dort alles durchsuchen – und dabei auf herunterkommende Steine achten -, dann im Krankenhaus anrufen und fragen, wann man den Mann dort besuchen dürfe, dann diskutiert er mit sich selbst, ob man die Polizei rufen solle, entscheidet sich aber dagegen. Thea fängt dabei in erster Linie die Idee auf, dass man im Keller geht und versucht herauszufinden, was der Mann gesucht haben könnte und wartet ungeduldig, bis Bud endlich seine Planerläuterung beendet hat. Bud kann anpacken, aber ohne ausschweifende Selbstdarstellung und die Chefrolle übernehmen geht es nicht. Sie muss warten, bis er soweit ist, mit in den Keller zu kommen, wenn sie seine Unterstützung will. Und die will sie, sie macht alles lieber im Team.

Zu viert steigen sie in den Keller hinunter. Mia drückt sich dabei immer an ihren Vater, ist aber hoch aufgeregt und möchte in keinem Fall oben warten! Als erstes untersuchen sie die Stelle, an der der Stein aus der Mauer gefallen ist und finden eine armselige kleine Brechstange, die nicht nach einem Profi-Einbrecher aussieht.
“Müssen wir nicht schon aus versicherungstechnischen Gründen besser die Polizei rufen? Nicht, dass wir oder der Vermieter verantwortlich gemacht werden für den Unfall?”, fällt Dennis dann siedend heiß ein.

“Dennis, da hast du völlig Recht! Bravo, da habe ich noch gar nicht dran gedacht.”, entfährt es Thea.

Bud ändert sofort seinen Plan und bezieht die Polizei dabei mit ein. Innerhalb kurzer Zeit wird jeder denken, er wäre Urheber der Idee gewesen, dass man die Polizei verständigen müsse. Dennis kennt das, dass am Ende immer andere die Lorbeeren einheimsen, die eigentlich ihm gebühren. Das ist wohl sein Schicksal.

“Wir müssen ja nicht gleich Anzeige erstatten. Nur wenigstens alles zu Protokoll bringen”, entscheidet er. Thea und Dennis nicken. Mia guckt von einem zum anderen und nickt dann auch. Thea lächelt sie an und gibt Mia zu verstehen, dass sie als Mit-Entscheidungsträger in der Gruppe akzeptiert ist. Mia strahlt.

“Ok, dann gehe ich heute Nachmittag gleich hin, den einen auf der Polizeiwache kenne ich auch, mit dem habe ich schon zusammen im Sportclub geboxt”, entscheidet Bud.

“Du hast mal geboxt?”, fragt Dennis erstaunt.

“Sollten nicht eher Dennis und ich gehen, wir haben den Typen hier schließlich gefunden?”, übergeht Thea Dennis Frage. Ist ihr doch egal, ob Bud mal geboxt hat. Er soll angeblich auch mal schlanker gewesen sein. Entscheidend für sie ist nur, dass beides seit langem nicht mehr der Fall ist.

“Wie hält Horst es bloß seit Jahren so aufopferungsvoll mit ihm aus, in dieser verkorksten, ungesunden Beziehung”, denkt Thea zum wiederholten Male und sieht Bud unwillig von der Seite an. Vor fünf Jahren ist Horst bei Bud eingezogen, ziemlich Knall auf Fall, nachdem sie sich über das Internet kennengelernt hatten und ein Paar geworden waren.

Dennis und Thea machen aus, dass sie gegen 16 Uhr zur Wache nach Caldenburg fahren, wenn Anna, Mias Mutter, wieder da ist. Bud segnet die Abmachung ab, bietet den beiden noch an, sie hinzufahren. Aber beide wollen lieber das Rad nehmen, auch wenn das Wetter nass-kalt ist.

Sie untersuchen noch einmal den Keller. Der Stein musste schon lange sehr locker gewesen sein, der Mörtel ist völlig abgebröselt und liegt verteilt auf dem Boden. Es war auch nicht der einzig lose Mauerstein. Die Frage drängt sich ihnen auf, ob eine Versicherung das hier wirklich sehen sollte. Eigentlich müsste der Vermieter dringend was machen – aber erstmal mussten sie hier jeden Stein umdrehen. Sie versuchen, weitere Steine zu lockern, wobei sich tatsächlich automatisch auch andere Steine lösen.

“Genau so musste es passiert sein: der Typ hatte unterhalb an den Steinen geruckelt und dann von oben einen auf den Kopf bekommen, der sich dadurch gelöst hatte”, sagt Thea.

“Das spricht für die Theorie, dass er tatsächlich etwas hinter den Steinen gesucht hat…”, überlegt Dennis.

“Genau! Und deswegen suchen wir so lange, bis wir was gefunden haben! Ich hole eine anständige Brechstange, die hier von dem Typen ist viel zu klein.” Bud will in seinen Werkzeugkeller.

“Nein, warte doch mal!”, hält Thea ihn auf, “wir können doch jetzt hier nicht alle Steine entfernen! Da fällt ja alles zusammen. Wir sollten erstmal wissen, was wir eigentlich suchen. Und dafür müssen wir den Mann befragen.”

“Wenn der uns was sagt…”, gibt Dennis zu bedenken.

“Wird er, da bin ich sicher.” Thea sieht den Mann wieder vor sich. “Er sah eigentlich nicht nach einem Verbrecher aus, eher nach einem verpeilten Intellektuellen, der zu blöd war, einen Stein in einer Mauer zu lösen, ohne dass ihm ein anderer auf den Kopf fällt”, denkt sie.

Nachdem sich sogar Bud überzeugt hat, dass man vielleicht doch erst andere Schritte gehen sollte, ehe man den gesamten Keller mit der Brechstange auseinandernimmt, verlassen sie den Keller. Während Thea und Dennis noch im Hausflur stehen bleiben, geht Bud an sein Auto und holt Unmengen an Weihnachtsdeko heraus. Seine Mutter ist letzten Monat in ein Seniorenheim gekommen und Bud räumt gerade noch die letzten Sachen aus der alten Wohnung. Als er einen großen Obstkarton voll mit verknoteten Lichterketten aus dem Kofferraum hievt, hört man die Stimmen von Lisa und Horst auf der anderen Seite des Hauses.

***

Lisa und Horst sind gleichzeitig jeweils von ihrer Arbeit zurückgekommen und gehen zu Fuß über den Schotterweg, der zu ihrem Wohnhaus führt.

“Ey, es war so anstrengend, als ich versucht habe, dieses Regal in der Praxis hochzuwuchten, das dabei fast auseinanderfiel, das kannst du dir nicht vorstellen!”, hört man Lisas aufgeregte Stimme. Lisa schiebt ihr Rad neben Horst her. Das Haus steht recht einsam und etwas entfernt von einer Landstraße, die aus der Kleinstadt Caldenburg herausführt. Da es mal ein Bahnhofsgebäude war, gab es ursprünglich zwei Eingänge, vorn und hinten. Jetzt ist aber nur noch der hintere Eingang, hin zu den ehemaligen Schienen, benutzbar. Das große Bahnhofstor an der Vorderseite ist umgestaltet zu einem großen Fenster aus mosaikartig zusammengesetzten Glasscherben. “Da hatte sich ein minderbemittelter Künstler wohl versucht und danach dann seine Karriere lieber geschmissen”, lästert Lisa immer. Nur die kleine Mia findet das Fenster toll, durch das sich die Sonne auf dem Boden des Hausflurs wie durch ein Kaleidoskop bricht.

Während Bud mit seinem Daimler-Benz immer über den Schotterweg brettert und sogar immer um das Haus herumfährt, obwohl er dabei zum Teil die Wiese queren muss, die das Haus weitläufig umgibt, parkt Horst sein Auto immer etwas weiter weg an der Landstraße, um eben den Schotterweg bis zum Haus zu meiden.

“Mein Auto ist eben schon etwas klapprig, wie sein Fahrer”, pflegt er zu sagen und damit zu kokettieren, dass er mit seinen 62 Jahren der Methusalem von “Schloss Hurra” ist. Vor allem hatte er aber seinen alten Alfa Romeo 147, Baujahr 1999, so tief gelegt, dass es diesen Holperweg auch vor 12 Jahren nicht ohne Unterbodenschaden überstanden hätte.

Horst hört Lisa verständnisvoll zu.

“Wenn du Hilfe bei der neuen Einrichtung deiner Praxis brauchst, dann musst du Bescheid sagen. Ich….”, setzt Horst an.

“Nein, nein, Horst, das ist total lieb von dir, aber das brauchst du wirklich nicht. Mein Praxiskollege Klaus wird mir helfen. Wenn er schon von der geringen Miete profitiert, indem er sich bei mir in den Büroräumen eingenistet hat…“.

“Doch, wirklich, Lisa, du musst nur Bescheid sagen! Morgen komme ich einfach und…”, setzt Horst wieder an.

“Nein, wirklich Horst, alles gut, ich danke dir, aber Klaus wird mir morgen helfen. Punkt.”, würgt Lisa Horst ab.

Horst guckt etwas beleidigt.

Hinter ihnen hört man den Kies unter schnellen Fahrradreifen knirschen und beide weichen unweigerlich aus und rempeln sich dabei so an, dass Horst fast das Gleichgewicht verliert.

“Mensch, Elias, kannst du nicht mal langsam fahren, wenn du an Leuten vorbeifährst? Du bist schlimmer als Bud mit seinem stinkenden Diesel!”, blafft Lisa Elias, Theas 12-jährigen Sohn, an.

“Ja, Mann, ist ja gut. Tschuldigung.”, nuschelt Elias, springt vom Rad und schiebt es schnell ein paar Meter vor den beiden her.

“Wo ist den Johanna?”, fragt Horst mit versöhnlicher Stimme nach Elias Schwester.

“Noch in der Schule. Hat noch Chor.”, antwortet Elias einsilbig. Er redet so sparsam wir möglich, wenn er keine Lust hat. Und auf Horst und Lisa hat er nun gar keine Lust. In dem Moment kommt Mia um die Ecke geflitzt.

“Elias, Elias, weißt du, was heute passiert ist?” und rennt schnurstracks auf den Jungen los, der nun ein kleines Lächeln zeigt. Mia vergöttert ihn und er findet sie süß. Aber nur manchmal, wenn er nicht gerade besseres zu tun hat. In jedem Fall hätte er lieber so eine kleine Schwester als eine wie Johanna, die drei Jahre älter ist: Eine Mia könnte er leichter herumkommandieren und manipulieren.

“Ne, weiß ich nich’. Was denn?”, fragt er sanft, aber nicht wirklich überzeugt, dass sie was Spannendes zu erzählen hat. Er erwartet sich wieder so eine Geschichte von diesem Kevin, der ein Mädchen aus einer Klasse unter ihm gemobbt hat oder sowas. 

“Unten im Keller, da hat einer gelegen! Von einem Stein erschlagen!”, sprudelt Mia raus, “Aber nur ganz kurz, dann ist er wieder wach geworden und Papa hat den Krankenwagen gerufen und erste Hilfe gemacht.”

Nun wird Elias ganz aufgeregt und starrt sie mit großen Augen an. Lisa und Horst werden auch hellhörig und alle scharen sich um das Kind.

“Mia, was faselst du dir da zusammen?”, fragt Lisa barsch, “das klingt wie eine Räuberpistole, da hast du doch sicher was erfunden!”

“Mia, der Reihe nach. Was ist passiert?”, fragt Horst mit mildem Tonfall nach.

“Hab’ ich euch doch schon gesagt!”, wird Mia ungeduldig, „dass Erwachsene auch immer so schwer von Kapee sind!“

Elias wartet nicht länger ab, schmeißt sein Rad hin, stürmt ins Haus und drückt die schwere Haustür auf. “Mama! Mama! Was erzählt Mia da? Was war da im Keller?”, brüllt er.

Im Hausflur stehen Thea, Dennis und Bud, der noch immer mit der Kiste mit den Lichterketten im Arm. Dann kommen auch Lisa und Horst herein. Thea erzählt lebhaft, was passiert ist. Dennis wirft selten einen Satz ein, bei Theas Sprechtempo kann er eh nicht mithalten. Als die Stelle kommt, wo Bud dazustößt, übernimmt dieser die Erzählung.

Die fünf Erwachsenen diskutieren hin und her, was denn nun am besten zu tun sei, stellen Hypothesen auf, was der Mann da unten wohl gesucht haben mag und wer er sein könnte. Elias unterbricht immer wieder aufgeregt und wird von Lisa zurechtgewiesen. Ein Zwölfjähriger hat in solchen wichtigen Fragen nicht seinen Senf dazuzugeben. Lisa selbst hat keine Kinder und mit 52 auch das Alter überschritten, wo sie das noch nachholen könnte. Aber das würde sie auch gar nicht wollen, es war ihre ganz bewusste Entscheidung gegen Kinder, das betont sie immer. Sie hatte sich nach der Beendigung hres Psychologiestudiums und der Eröffnung ihrer Praxis auch deutlich von Kindern als potenzielle Patienten distanziert. Sie behandele nur Erwachsene.

“Diese baustellenartige Gehirne von Pubertierenden sind einfach nicht mein Ding” hat sie Thea und Anna erklärt, “auch wenn ich die Kindheit meiner erwachsenen Patienten natürlich in der Diagnose immer mit einschließen muss.”

“Wir müssen in jedem Fall zur Polizei. Vielleicht kennen die den Typen ja sogar oder wissen, was der gesucht hat”, gibt Lisa nun zu Bedenken.

“Sollen wir nicht vorher noch ins Krankenhaus und den Typen ausfragen?”, schlägt Thea vor.

“Na, ich weiß nicht, lieber erst die Polizei verständigen!”, wirft Horst ein, “nicht, dass wir was verpassen. Die müssen hier ja auch Spurensuche machen und nicht, dass da vorher welche verwischt werden.”

“Wie denn? So wie Dennis das beschreibt, scheint der Typ dazu erstmal nicht in der Lage zu sein!”, entgegnet Bud und Dennis nickt zustimmend.

Lisa guckt zweifelnd: “Und wenn der aber einen Komplizen hat, der hier dann herkommt und das Werk vollendet?”

Alle gucken nachdenklich.

“Der hat bestimmt einen Komplizen!”, ruft Elias in die Stille.

“Schschtttt, Elias!”, fährt Lisa in an und bekommt einen bösen Blick von Thea, die es gar nicht gutheißt, wenn Lisa meint, sich in die Erziehung einmischen zu müssen, für die sie ihrer Meinung nach als kinderlose Frau nicht kompetent sei. Lisa wirft einen bösen Blick zurück.

“Ach, ich weiß nicht, irgendwie glaube ich das eigentlich nicht”, unterbricht Dennis das Blickgefecht der beiden Frauen, “aber ich finde auch, wir sollte möglichst bald die Polizei benachrichtigen. Ich muss aber warten bis Anna wieder zu Hause ist, wegen Mia”, fügt er hinzu.

“Wann kommt sie denn?”, fragt Bud ungeduldig, seinen Tatendrang nur schwer zähmend.

“Heute so gegen halb vier”, antwortet Dennis und sieht auf die Uhr, “also so in einer Stunde.

“Oooookey, warten wir!!”, seufzt Bud auf und bringt endlich den Karton mit den Lichterketten, die er die ganze Zeit auf seinem ausladenden Bauch platziert hatte, in seine Wohnung, gefolgt von Horst, der die herunterfallenden Birnchen einsammelt und die heraushängenden Schnüre hochhält, damit Bud nicht darüber stolpert und dabei die breite abgetretene Treppe hochfällt. Dennis zieht derweil die nörgelnd an ihm hängende Mia in die Wohnung, während Thea ihren Sohn Elias, der inzwischen schon so groß ist wie sie, nach draußen schiebt, damit er sein Rad holt, das noch, weiß-der-Himmel-wo, herumliegen muss. Es beginnt schon zu tröpfeln und ein Frühlingsregen kündigt sich an.

Kapitel 2 Nach dem Kriegsrat geht es auf die Wache

Fluchend und nass geregnet kommt Anna tatsächlich eine Stunde später zum “Schloß Hurra” geradelt und schiebt ihr tropfendes Fahrrad in den Flur, an dem von Elias vorbei, der seins zwar reingeholt, aber sich nicht damit in den Keller getraut hat.

“Grmpf, muss der Junge immer sein Rad im Flur stehen lassen! Es ist doch wirklich kein Akt, es eben runter in den Keller zu bringen!”, schimpft sie laut und dabei ist durchaus beabsichtigt, dass der Übeltäter Elias es hören möge. Oder wenigstens seine Mutter Thea. Weder Thea noch Elias hören sie, aber natürlich ihre Tochter Mia, die schon die ganze Zeit ungeduldig hinter der Wohnungstür gewartet hat. Sie reißt die Tür auf und stürzt auf ihre Mutter zu und wie eben bei Elias sprudelt es sofort aus ihr heraus. Bei dem Lärm hört jetzt auch Thea, dass Anna gekommen ist und offenbar hat auch Bud schon oben gelauert und kommt zusammen mit Horst sofort die Treppe herunter. Anna sieht alle verwundert an.

“Was ist das denn für ein Begrüßungskomitee?”, fragt sie in die Runde, während sie den wirren Erzählungen ihrer Tochter nur mit halbem Ohr zugehört hat.

Thea und Bud berichten, was passiert ist, diesmal kommt aber auch Dennis mehr zu Wort, da Anna ihn immer wieder fragend ansieht, um zu wissen, was ihr Mann für eine Rolle in der Geschichte gespielt hat. Sie nickt anerkennend.

“Toll, dass du sofort Erste Hilfe geleistet hast, Dennis!,” sagt sie, und als Dennis gerade erfreut lächeln will, fügt sie hinzu: “Bist du sicher, dass du alles richtig gemacht hast?” Dennis Lächeln erstirbt und er guckt zu Boden. “Ja ich denke schon, dass ich alles richtig gemacht habe!”, geht er in die Verteidigungshaltung.

Bestimmend fährt Anna zu den anderen gerichtet fort: “Wir sollten in jedem Fall als erstes die Polizei informieren, beziehungsweise Thea und Dennis sollten das, und danach dann sofort ins Krankenhaus, den Mann aufsuchen. Und das alles am besten gleich noch heute!”,

“Zumindest die Polizei noch heute…” ergänzt Thea.

Als nun also alle endlich beschließen, dass Thea und Dennis sofort zur Wache losfahren sollten, entbrennt eine Diskussion, auf welche Art und Weise. Bud wiederholt, dass er die beiden fahren würde, worauf aber weder Dennis noch Thea Lust haben, die ihrerseits insistiert, dass sie am liebsten das Fahrrad nähme, weil ihr Auto in der Werkstatt sei. Dennis merkt an, dass er auch ein Auto besitze, wird aber von Anna unterbrochen, die ihn darauf hinweist, dass sie das brauche, um Mia gleich zum Ballettunterricht zu bringen.

“Solange er noch stattfindet!”, ergänzt sie, mit Hinblick auf die angedrohten Schließungen aller Institutionen. Dennis zuckt in sich zusammen. Dieses Corona-Virus, das im Dezember das erste Mal in China aufgetaucht ist und sich inzwischen längst nach Europa durchgeschlagen hat, macht ihm Angst, aber noch mehr macht ihm die Angst davor Angst.

Dann meldet sich Horst, der vorschlägt, dass er doch sowieso noch ins Kulturzentrum müsse und die beiden doch einfach mitnehmen könne. Das findet allgemein Zustimmung, außer Mias, die quakt, dass sie aber mit wolle zur Polizei, schließlich sei sie auch dabei gewesen.

Während Thea noch schnell ihre Ausweispapiere holt, Elias gezwungen wird, sein Fahrrad in den Keller zu bringen, zerrt Anna ihre heulende protestierende Tochter durch ihre Wohnungstür. Dennis und Horst gehen mit Regenschirmen ausgestattet schon zur Straße zu Horst Auto, begleitet von Bud, der nur schwer das Ruder aus der Hand geben kann. Lisa verschwindet im ersten Stock, froh, dass sie nicht so ein schreiendes Balg wie Mia hat, das man noch durch die geschlossene Tür von Annas und Dennis Wohnung hört.

“Also, wie gesagt, der Polizeihauptmann Juri ist ein alter Kumpel von mir, wir waren früher im Boxverein…”, setzt Bud an.

“Was für ein Boxverein eigentlich? In Caldenburg gibt es doch gar keinen,” unterbricht Dennis ihn.

“Nee, der in Eichenhof. Aber den gibt es heute auch nicht mehr; – den haben die 2011 dicht gemacht. Darum habe ich dann auch aufgehört, man hätte sonst so weit fahren müssen, da hatte ich keinen Bock drauf”, erzählt Bud weiter, “ob….”.

“Hätte dir aber gutgetan”, unterbricht Thea ihn, die gerade zu den beiden stößt, “das soll ein Sport sein, wo man richtig Kalorien verbrennt, habe ich mir sagen lassen”.

“Ob…”, setzt Bud seinen unterbrochenen Satz laut betonend und mit bösem Blick auf Thea fort, “…Juri heute noch boxt, weiß ich nicht. Wir haben danach etwas den Kontakt verloren.”

“Naja, dann bin ich ja mal gespannt auf den Hauptoberpolizist”, grinst Dennis, “wenn wir den überhaupt zu sehen bekommen, darum wird sich doch sicher ein kleiner Beamter kümmern, kaum der Chef selbst.”

“Ganz sicher nicht!”, lacht Thea, die sich wieder dran erinnert, dass es nicht ungefährlich ist, Bud so zu provozieren.

“So kommt, wir müssen los. Es ist schon fast 17 Uhr, ewig wird die Wache auch nicht mehr aufhaben!”, drängelt nun Horst, und bald sitzen die drei in dem alten Alfa Romeo, der bei dem Gewicht von drei Leuten noch mal ein Stück tiefer sackt. Thea bleibt gleich mit dem Knie hinten an einer herausragenden Sprungfeder der Lehne des Fahrersitzes hängen, Dennis sackt vorn so tief in die durchgesessenen Polster, dass er sich fragt, ob jemand wie Bud da ohne fremde Hilfe wieder herauskommt. Dann aber geht der kleine Alfa richtig ab und Dennis und Thea klammern sich in jeder Kurve überrascht fest.

Direkt vor der Polizeistation von Caldenburg lässt Horst die beiden aussteigen. Der Regen hat inzwischen nachgelassen.

“Am besten kommt ihr danach, wenn ihr fertig seid, rüber ins Kulturzentrum. Lange habe ich dort nicht zu tun.”, sagt Horst und fährt weiter zum Kulturzentrum von Caldenburg, das fußläufig 10 Minuten von der Wache entfernt liegt und von dem Horst der Vorsitzende ist. Seit 20 Jahren schon engagiert er sich für die Kultur und die Musikszene in der Kleinstadt. Horst ist der große Kümmerer. Wenn es was zu tun oder zu helfen gibt, ist er an erster Stelle. Engagiert, empathisch und immer mit ganzem Herzen bei der Sache. Wenn man aber gar keine Hilfe braucht, wird es anstrengend, weil Horst das nur schwer akzeptieren kann.

Thea und Dennis drücken gegen die Tür der Polizeistation. Geschlossen.

“Mist!” murmelt Thea.

“Hätte man sich ja fast denken können. Das sind Beamte; – um fünf nachmittags fällt der Hammer”, brummelt Dennis und denkt daran, wie oft er als Angestellter eines großen Unternehmens Überstunden macht und seine Frau Anna als Selbstständige sowieso.

“Wir haben aber erst halb fünf”, moniert Thea.

“Vielleicht sind die schon im angekündigten Lockdown, wie die Theater”, versucht Dennis zu scherzen und versucht dabei, seine Angst vor den seltsamen Ereignissen und der bedrohlichen Krankheit zu unterdrücken. Im Dezember letzten Jahres hatte man das erste Mal von diesem Virus in China gehört. Seitdem breitet er sich offenbar unaufhaltsam in der ganzen Welt aus.

Ratlos stehen die beiden vor der Tür und sehen sich an. Dann drückt Thea aus einer spontanen Eingebung beherzt den Klingelknopf. Es muss doch eine Art Notdienst der Polizei auch auf der Wache geben und das hier ist ein Notfall! Dennis guckt etwas unsicher, aber dann denkt auch er, dass das eine gute Idee sein kann. Sie hören, wie der Schlüssel sich im Schloss dreht. Es ist ein altes Gebäude und die Tür ist aus massivem Holz. Knarrend geht sie auf, ein Mann, der den beiden mindestens 2 Meter groß vorkommt, mit Vollbart und dichtem grauen Haar steht in Uniform vor ihnen. Thea schluckt, als sie den fragenden Blick der durchdringenden Augen auf sich spürt.

“Puh, was für eine Erscheinung!”, denkt sie beeindruckt und fühlt sich etwas eingeschüchtert. Auch Dennis ist eingeschüchtert, das ist aber bei ihm aber nicht so ungewöhnlich. Eigentlich weiß Dennis, dass er das nicht nötig hätte, aber wie er an allem immer zweifelt, zweifelt er auch an sich ununterbrochen.

“Ja, was kann ich für Sie tun?”, kommt eine tiefe sonore Stimme aus dem großen Mann.

“Äh, ja also, wir haben was Wichtiges zu melden. Wir haben einen Mann in unserem Keller gefunden, der von einem Mauerstein erschlagen wurde”, sprudelt Thea raus.

Mein Gott, was erzähl‘ ich für einen Schwachsinn, dass muss er doch jetzt völlig falsch verstehen!”, denkt Thea über sich selbst entsetzt. Sie ist ja sonst nicht auf den Mund gefallen.

Der Polizist hebt amüsiert die Augenbrauen. Da die beiden Gestalten vor ihm relativ gefasst und unaufgeregt wirken, kann alles nicht so schlimm sein, denkt er sich wohl.

“Na, dann kommen Sie mal rein und erzählen Sie”, fordert er die beiden freundlich auf und hält ihnen die Tür, die dann krachend ins Schloss fällt, als der Polizist sie loslässt, nachdem die beiden durchgegangen sind. Beide fahren in sich zusammen und es hat was von “in die Falle gegangen zu sein”.

Dennis fühlt sich, als ob eine schwere Gefängnistür hinter ihm ins Schloss fällt. Er zieht unweigerlich den Kopf etwas ein. Er ist im Moment sowieso in so einer verunsicherten Lebenssituation mit den ganzen Geschehnissen in China, jetzt in Europa. Es gab bereits den ersten Coronafall in Niedersachsen, in NRW waren schon zwei alte Menschen daran gestorben, heißt es! Er fragt sich, ob das Tragen von Masken wie die Chinesen das tun, nicht sinnvoll wäre. Überhaupt empfindet er das alles so seltsam, was da in China passiert ist.

Der Polizeibeamte, der sich ihnen als Hauptkommissar Juri Wolkow vorstellt, also tatsächlich Buds Boxspezl aus alter Zeit, führt sie in das Amtszimmer.

(…)

***

Sie finden Horst im kleinen Büro, wo er mit der Sekretärin gerade über die geschlossenen Theater und abgesagten Großveranstaltungen diskutiert.

“Ein Supergau für die Kunst! Hoffentlich kann unser kleines Osterfest überhaupt stattfinden!” jammert Horst.

“Da mach dir mal keine allzu großen Hoffnungen”, unkt Sarah, die 1/4 Stellen-Sekretärin des Vereins.

“Aber Ostern ist in nicht mal einem Monat! Das werden wir ja wohl noch hinkriegen”, erwidert Horst.

“Abwarten…” hören Dennis und Thea Sarah gerade antworten, als sie die Tür aufdrücken.

Horst sieht sie sofort hoch erregt an.

“Und? Was hat die Polizei euch gesagt? Was haben die rausgekriegt?” platzt es aus ihm heraus.

“Naja, nicht viel. Alexander Westerfeld heißt der Mensch und ist kein gesuchter Verbrecher”, erklärt Thea trocken.

Sie erzählen Horst und Sarah, die natürlich auch schon Bescheid weiß, von ihrem Besuch bei  ‚Oberhauptkommissar Wolkow‘, der in ihren Ausführungen längst respektlos zu ‚Juri‘ geworden ist, als ehemaliger Boxkumpane von Bud.

“… und dann hat Juri beim Krankenhaus angerufen!”, führt Dennis Theas Erzählung weiter.

“Ja, klar, das macht Sinn! Die Polizei wird ja auch Auskunft bekommen!”, fällt Sarah ihm ins Wort, “Und?” Sarah guckt erst Dennis, dann Thea erwartungsvoll an.

“Also, dem Typen geht es wohl soweit gut, er ist offenbar vernehmungsfähig und Juri fährt heute Abend noch ins Krankenhaus – er ist sicher auch gespannt, was der zu erzählen hat! Ja, und viel mehr konnte Juri uns auch nicht sagen”, fügt Thea leiser und mit bedauernd-zuckenden Schultern hinzu.

“Wie, mehr habt ihr nicht erfahren? Nicht, wer der Typ genau ist, oder so?”, bohrt Horst fassungslos nach.

“Nein, nur noch, dass es sich bei dem Typen nicht um jemanden handelt, der in der polizeilichen Kartei irgendwo auftaucht. Nicht mal wegen Ordnungswidrigkeiten.”

“Das hat Juri gar nicht gesagt, das mit den Ordnungswidrigkeiten.”, verbessert Dennis Thea, die ihre Geschichten immer gern etwas ausschmückt.

“Naja, so ähnlich. Das hat uns Juri aber auch alles wohl nur verraten, damit wir uns keine Sorgen machen, dass es da Komplizen geben könnte, oder ein größeres Verbrechen zu vermuten ist.” Man merkt Thea an, dass sie selbst am meisten bedauert, nicht mit einer tollen Geschichte aufwarten zu können.

”Ach ja, und wir haben von einer Anzeige erst einmal abgesehen. Wir können das ja noch besprechen. Jetzt erstmal macht der Typ nicht den Anschein eines Schwerverbrechers. Juri hat uns im Prinzip dazu auch geraten – also, ich meine abgeraten, sofort eine Anzeige zu machen. Wir sollten jetzt aber endlich nach Hause fahren, die anderen warten auch schon auf Nachrichten, wir müssen sie vor allem beruhigen, dass von dem Typen wohl keine potenzielle Gefahr ausgeht. Anna rufe ich gleich schon vom Auto aus an”, sagt Dennis.

Als die drei im Schloss Hurra ankommen, strömen alle im Hausflur zusammen, sogar Lisa, die sich sonst immer einsiedlerisch zurückzieht, kommt die knarrenden Stufen aus dem ersten Stock zu dem Grüppchen herunter, das sich am Fuße der Holztreppe versammelt. Die Kinder, einschließlich Mia im Schlafanzug, sitzen auf der untersten Stufe, während die Erwachsenen im Halbkreis um sie herumstehen. Alle sind enttäuscht, dass Thea und Dennis so wenig Informationen von der Polizei mitbringen.

“Alexander Westerfeld, nie gehört”, grübelt Anna, “wer das ist, hat er euch nicht gesagt, dieser Juri?”

“Er muss euch doch mehr Infos gegeben haben! Er ist doch sonst nicht so!” Bud ist fassungslos.

Alle fixieren Thea und Dennis, die immer nur vehement den Kopf schütteln.

Keiner achtet auf Lisa, die bei dem Namen in sich zusammengezuckt ist, aber nichts sagt. Wie immer, wenn mehrere Menschen zusammenstehen, zieht sie sich zurück und beobachtet wie aus der Ferne.

“Hättet ihr nicht mit Juri ins Krankenhaus fahren können?”, fragt Johanna verzweifelt, Theas 15jährige Tochter und rutscht auf der Treppenstufe hin und her, dabei ihren Bruder neben sich anrempelt, der sich mit einem Boxer in ihren Oberarm revanchiert, wobei Mia fast von der Treppe rutscht und sich nun an Elias klammert.

“Ne, natürlich nicht, aber vielleicht können wir ja morgen einfach ins Hospital? Was denkt ihr?”, fragt Thea in die Runde. Alle nicken zustimmend.

“Ich kann morgen nicht, ich muss zu mehreren wichtigen Kundengesprächen. Unter anderem zu einem großen Unternehmen in Eichenhof, das ich unbedingt als Klienten gewinnen will”, winkt Anna bedauernd ab.

“Vielleicht sollten eh nur die beiden hin, die den Typen gefunden haben?”, fragt Horst.

“Ne ne, wir sind alle betroffen, schließlich ist der in unser aller Haus eingebrochen!”, ereifert sich Bud und Lisa nickt zustimmend und macht einen Schritt nach vorn auf die Gruppe zu.

“Aber von ‘einbrechen’ kann schwerlich die Rede sein, bei einer Tür, die von morgens bis abends sperrangelweit offensteht!”, moniert sie vorwurfsvoll. Dieser Umstand ist ihr immer schon ein Dorn im Auge gewesen und nun hat man den klaren Beweis, dass sie recht hatte.

“Ich werde morgen Vormittag gehen,” verkündet Thea fest und denkt gehässig: “Morgen Vormittag kann Bud nicht, das weiß ich. Wer sonst noch mitkommt, ist mir wurscht. Hauptsache, der nicht – dieser Idiot mit seinem Bud Spencer Hau-drauf Syndrom!”

Da sie freie Wissenschaftsjournalistin ist, kann sie sich ihre Zeit weitgehend einteilen.

“Morgen Vormittag kann ich aber nicht!”, poltert Bud auch prompt los.

“Ok, schade, aber egal,” heuchelt Thea Bedauern, von dem jeder, einschließlich Bud, weiß, dass sie es nicht empfindet, “aber nachmittags kann ich dann nicht, und ich sollte ja in jedem Fall mit von der Partie sein.” Dann zu Dennis gewandt: ”Und du, wie sieht es bei dir aus?”

“Ja, ich könnte eventuell so gegen 9h. Um 11h müsste ich dann aber im Labor sein.”, überlegt Dennis laut.

“Das passt!”, bestimmt Thea. Sie guckt fragend in die Runde.

“Mh, ich könnte eventuell mitkommen”, murmelt Lisa. Alle sehen sie erstaunt an. Damit hat keiner gerechnet, denn Lisa hält sich gewöhnlich aus allem raus.

“Ja, klar, warum nicht?”, antwortet Thea und das ist diesmal nicht gespielt. Sie hat nichts dagegen.

“Anna, kann Dennis euer Auto morgen haben?”, fragt Thea. Diese nickt.

“Ja, ich nehme morgen den Zug zu meinen Kunden, Dennis muss mich dann nur um 8h zum Bahnhof nach Caldenburg bringen, nachdem wir Mia zur Schule gebracht haben.”

“Ok, dann ist es beschlossene Sache: morgen gegen neun Uhr fahren Thea, Lisa, Dennis ins Krankenhaus. Ich kann leider auch nicht, dabei hätte ich euch wirklich gern gefahren”, fasst Horst für alle zusammen und wirft einen unsicheren Seitenblick auf seinen Freund Bud, der finster den Mund verzieht, als kaue er auf einer Zitronenschale herum.

“Oh Gott, der arme Horst muss das heute Abend ausbaden”, denkt Thea mitleidsvoll. Aber sie hat Bud wirklich nicht dabeihaben wollen.

Der Kriegsrat wird aufgelöst und alle verschwinden in ihren Wohnungen.

Anna flüstert Thea vorher noch schnell zu: “Ich komme gleich mal rüber, ja? Wenn Dennis Mia ins Bett bringt”. Thea nickt zustimmend. Anna und Thea sind befreundet, aber nicht erst, seit Anna und Dennis dort vor drei Jahren eingezogen sind, sondern schon darüber hinaus. Die beiden haben über Thea damals erfahren, als im Schloss Hurra eine Wohnung ihr gegenüber frei wurde.

“Was Anna wohl will? Ob was mit Dennis ist? Oder mit Mia? Oder will sie bloß meine Sicht des heutigen Ereignisses wissen?” fragt sich Thea, während sie die Wohnungstür hinter sich und ihren beiden Kindern Johanna und Elias schließt, “und warum wohl Lisa mitwill?

Kapitel 3: Anna macht sich Sorgen um Dennis

Gegen 19 Uhr klopft es leise an Theas Tür. Elias brüllt aus seinem Zimmer:”Mamaaa, jemand ist an der Tür!”

Thea, die gerade an seiner weit offenstehenden Tür vorbeigeht, fallen fast die Ohren ab und sie fährt in sich zusammen.

“Ja, habe ich gehört, brüll’ doch nicht so!”

Sie öffnet und Anna schlüpft durch die Tür. Zwar ist Dennis am Mittwoch damit dran, Mia ins Bett zu bringen, dennoch kann sie dann schwer das, was sie ihre Mutterpflicht nennt, loslassen.

“Na, welche Geschichte liest Dennis Mia heute Abend vor?”, fragt Thea, um Anna aus ihren Sorgen zu holen, dass ihre Tochter nicht das bekäme, was sie braucht.

“Schon wieder ‘Puh hier stinkt’s’, dieses dämliche Buch von der Spitzmaus, die Panther-Pupu am Geruch erkennt. Ich versuche immer, das Kind von jeder deutschen Analfixiertheit wegzuholen, und dann liest ihr Dennis dauernd dieses Buch vor und Mia lacht sich jedes Mal kringelig!”, schimpft Anna los.

“Anna, Kinder finden alles witzig, was mit Kacke, A-ah und Pupu zu tun hat. Dennoch wird aus den meisten etwas Anständiges, wenn sie älter werden”, versucht Thea sie zu beruhigen und weiß bereits, dass es nichts bringen wird.

“Hast du je ein französisches Kind kichernd durch die Gegend rennen sehen und laut kichern rufen: ‘crottes, crottes, crottes’? Dieses K… freude ist meiner Meinung nach typisch für deutsche Kinder und man muss es nicht auch noch fördern!”

Anna kann das Wort Kacke nicht mal selbst aussprechen”, denkt Thea und fragt sich, wie sie ihre Freundin ablenken kann. Aber Anna ist bereits in Fahrt und während sie noch Richtung Wohnzimmer geht, um sich dort auf die Couch zu setzen, vor der bereits eine Kanne Tee auf dem Stövchen steht und auf sie wartet, redet sie sich weiter in Rage.

“Guck dir allein diese Hamsterkäufe der Deutschen an, mit denen sie sich gerade in der ganzen Welt lächerlich machen! Alle ausländischen Zeitungen berichten hämisch von den analfixierten Deutschen, die Klopapier horten, als wäre das das wichtigste zum Überleben einer Krise. Fotos von leeren Toilettenpapierregalen in Deutschland gehen um die Welt.”, schimpft Anna und greift zu der Teetasse, die Thea ihr reicht.

“Naja, aber auch von den Franzosen, die mit Wein beladenen Caddies und Italienern mit Nudeln aus den Läden kommen”, versucht Thea zu vermitteln, während sie sich selbst auch eine Tasse einschenkt.

“Noch schlimmer! Wenn das zeigt, was jeder Nation am wichtigsten ist, dann armes Deutschland!” Anna nippt an ihrem Tee und verzieht das Gesicht, weil er zu heiß ist.

Thea lenkt wieder ab: “A propos, mein Problem ist übrigens, dass ich nicht zu den Hamsterern gehöre und seit Tagen versuche, irgendwo noch eine einzige Klopapierrolle zu finden. Wir sitzen hier mit der letzten und ich habe schon Taschentücher ins Bad gelegt. Habt ihr noch ein oder zwei Rollen für uns?”

Anne stellt die Tasse mit dem zu heißen Tee ab. “Ja, massenhaft! Als Dennis gesehen hat, welche Mengen andere Menschen aus dem Supermarkt rausschleppen, hat er panisch vorletzte Woche alle verbleibenden Rollen erst aus dem einen Laden, dann sogar noch aus einem anderen geholt! Da ist da er extra noch rumgefahren! Wir haben jetzt irgendwie sieben Packungen mit je 10 Rollen. Wir überleben vielleicht nicht Corona, aber sicher jede Durchfallepidemie.”

Thea lacht laut auf und verschüttet fast den Inhalt ihrer Tasse: “Zumindest verlierst du nie deinen Humor!”. Dann wieder ernster: “Aber Anna, nun sag, was ist los. So ein spontaner Besuch am Abend ist nicht typisch für dich.”

“Thea, ich mache mir wirklich Sorgen um Dennis. Diese Klopapier-Kaufaktion könnte eine lustige Anekdote sein, aber was mir Sorgen macht, ist, was bei ihm gerade innerlich abgeht. Er ist wirklich in so einer Angst gefangen. Er liest alles durch, was mit dem Ursprung des Virus zu tun hat, anstatt einfach zu überlegen, wie wir uns schützen können. Auch mir macht das Angst, dass wir nicht wissen, was dieses Virus wirklich mit unserer Gesundheit macht, die Berichte aus Bergamo und Norditalien versetzen uns alle in Panik. Mich auch, so cool bin ich nicht.”

“Nein, ich auch nicht, Angst macht einem das schon, aber ich glaube, Panik ist fehl am Platze…”, antwortet Thea ernst. Auch ihr ist der Tee zu heiß, aber sie behält die Tasse in der Hand. Sie hat eh eine differenziertere Meinung zu dem Thema, vielleicht bedingt durch ihre Arbeit als Wissenschaftsjournalistin, wo sie sich aus vielen unterschiedlichen Quellen informiert und auch an sie herankommt. Aber sie will nicht ablenken.

“Ja, Panik ist immer falsch. Aber was bei Dennis gerade abgeht, das ist mehr als begründete Sorge vor einer Krankheit, über die wir noch so wenig wissen und die sich ausbreitet wie ein Buschfeuer. Er diskutiert mit mir, ob das Virus wirklich aus einem Labor in China sein kann – da kann man ja meinetwegen noch drüber diskutieren – aber auch, ob ich mir vorstellen könnte, dass jemand das Virus mit Absicht ausgesetzt hat, und wenn ja, wer und warum…”, führt Anna weiter aus.

“Na, immerhin diskutiert er es noch mit dir”, versucht Thea einen Satz der Beruhigung.

“Ja, aber er diskutiert das nicht nur mit mir, sondern auch mit Kollegen bei Sanitec. Da scheinen gerade wilde Theorien rumzugehen, was eigentlich hinter dem Virus stecke”, und Anna betont die letzten Worte absichtlich gekünstelt und macht eine Bewegung mit der Hand nach oben.

“Wie? Das sind doch alles Pharmaleute! Die sind doch die, die mit am besten wissen sollten, dass Zoonosen immer wieder vorgekommen sind. Und das scheint ja wohl die plausibelste Erklärung.” Thea ist fassungslos.

“Ja, das ist es ja. Also, es sind auch nicht alle, es ist so eine Handvoll von Kollegen, aber direkt in Dennis Labor. Naja, und vom Fach sind sie nicht wirklich, sie arbeiten an Mittel gegen Haarausfall bei Männern.”

“Na gut, aber das sind studierte Chemiker!”

“Akademiker sein sagt noch nichts über Intelligenz aus”.

“Das stimmt leider”, seufzt Thea, und verschränkt ihre Beine im Schneidersitz auf dem Sofa, “aber meinst du, man muss sich bei Dennis deswegen echt Sorgen machen? Viele Menschen wollen wissen, woher das Virus kommt. Da kommen die aberwitzigsten Theorien hoch! Ich habe schon überlegt, ob ich einen Artikel darüber schreibe, welche Theorien alle aufgefahren werden und bei jeder darlege, wie wahrscheinlich sie überhaupt sein können.”

Anna seufzt einmal entnervt auf. “Dennis ist so anfällig für komische Theorien. Manchmal denke ich, wenn es ihm zu kompliziert wird, würde er sich wünschen, es käme eine Gotteshand von oben und würde alles für ihn richten.”

“Darum hat er sich ja dich als Frau gesucht”, grinst Thea.

Anna lacht gequält: “Habe ich was von einer Gotteshand?” Sie macht eine Faust und dreht sie theatralisch hin und her.

“Nein, aber du richtest vieles in seinem Leben mit deiner klaren Art. Du gibst immer das Gefühl, du wüsstest, was falsch und richtig ist”, erklärt Thea, “und führst ihn am Gängelband”, fügt Thea in Gedanken hinzu und laut: “Und das hat für Dennis oft was Beruhigendes.”

“Ja, das kann sein. Ich habe auch oft das Gefühl, wenn ich ihm nicht zwischendurch klar sage: ‘So und so’, dann würde er sich völlig in seine Zweifel verstricken und käme da nie wieder raus.”

“Zweifel sind ja nicht per se negativ, denn dabei ist er ja aber Mensch, der auch wirklich vieles sieht und weiß. Er ist halt auch in der Lage, zu sehen, dass es enorm viele Antworten auf eine einzige Frage gibt.”

“So viel Antworten gibt es gar nicht immer, oft gibt es wirklich nur richtig oder falsch. ER sieht immer ganz viele! Außer bei sich selbst, da nimmt er gar nichts wahr!”, sagt Anna verzweifelt.

Nein, es gibt nicht nur richtig und falsch, es gibt auch viel dazwischen, aber das sage ich jetzt lieber nicht, sonst sind wir gleich in einer ganz anderen Diskussion”, denkt Thea und lässt Anna weiterreden.

“Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der sich so wenig selbst kennt”, führt sie ihr Lamento weiter.

“Doch, Bud”, antwortet Thea trocken.

Anna stutzt kurz und lacht dann: ”Den armen Kerl hast du echt gefressen!” Sie entspannt sich etwas und lehnt sich zurück.

“Ja! Und naja, Dennis hat ja dich, du sagst ihm schon, wie er ist”, bringt Thea augenzwinkernd auf das Thema zurück, “und du hast ihn geheiratet, er wird also auch viele andere Qualitäten haben…”.

“Vermutlich, aber manchmal sehe ich sie echt nicht, er könnte doch…” Anna ist kurz davor, sich über Dennis ganzen negativen Seiten zu echauffieren, was Thea sofort unterbricht:

“Ok, zurück zu Corona und dem Ursprung des Virus‘. Was genau beunruhigt dich an Dennis Verhalten?”

Anna schweigt und sucht nach Worten. Dann leise: “Ich weiß nicht genau. Irgendwas beunruhigt mich in der Art, wie er sich mit der Frage beschäftigt.”

Langsam beunruhigt sich auch Thea. Anna hat eigentlich ein gutes Gespür für solche Dinge.

“Aber du weißt nicht, was genau?”, fragt sie nach.

“Nein”, antwortet Anna unglücklich. “Ist nur so ein Bauchgefühl.”

Damit hat Anna oft recht”, denkt Thea und fühlt sich jetzt auch nicht mehr wohl.

In dem Moment klingelt es an der Wohnungstür.

“Mama, wieder einer an der Tür!”, brüllt es aus Elias Zimmer.

“Dann geh doch eben hin”, brüllt Thea zurück.

Pause. Unterdrücktes Geschimpfe des 12-jährigen. Aber an der sich veränderten Richtung, aus der es kommt, lässt sich schließen, dass er zur Tür geht.

“Mama, Dennis sagt, Anna solle rüberkommen, Mia will ihr Gute Nacht sagen!”, verkündet Elias und steckt seinen Kopf durch die Wohnzimmertür. Dann ist er auch schon wieder verschwunden.

“Geh gleich noch mal mit dem Hund raus!”, ruft sie ihm hinterher. Keine Reaktion, er kann es gehört haben oder auch nicht.

“Pubertierende sind eine seltsame Mischung aus Omnipräsenz und Geisterhaftigkeit”, denkt Thea, während Anna aufspringt und seufzt:

“Ok, dann muss ich wohl rüber, Mia schläft sonst nicht ein!”

Thea steht auch auf, stellt ihre inzwischen leere Tasse neben die mit inzwischen fast kaltem Tee von Anna und begleitet Anna zur Tür.

“Aber Thea”, Anna dreht sich noch mal nach ihr um, ”morgen musst du mir noch mehr von dem Typen erzählen, den du im Keller gefunden hast. Ich habe Dennis und Mia schon ausgequetscht, aber ich hätte gern auch noch deine Version.”

 “Ja gern, aber viel mehr als Dennis kann ich dir auch nicht erzählen”, sagt Thea lächelnd, “nur auf spannendere Art und Weise täte ich es”, denkt sie und schließt die Tür hinter ihrer Freundin.

(…)

Kapitel 4 : Besuch bei dem Einbrecher im Krankenhaus

Am nächsten Morgen springt Thea aufgeregt aus dem Bett. Sie ist schon sehr gespannt, ob sie mit dem Mann, der sich in ihrem Keller von einem Stein hat erschlagen lassen, nachdem er dort mit einer Brechstange herumhantiert hatte, reden können würden. Hoffentlich lässt man sie bei dem momentanen Infektionsgeschehen überhaupt ins Krankenhaus!

Um kurz vor neun treffen sich Lisa und Thea im Hausflur. Thea hat die angeschlagene Brille dieses Alexander Westerfelds sorgsam in ein Papier gewickelt, um sie ihm mitzubringen. Sie müssen auf Dennis warten, der noch Mia in die Grundschule und Anna zum Bahnhof bringt.

Etwas verlegen stehen die beiden zusammen. Sie haben bisher wenig Kontakt miteinander gehabt. Manchmal sitzen die Hausbewohner draußen gemeinsam im Garten, grillen, trinken einen Kaffee oder ein Glas zusammen, aber da kommt Lisa eigentlich nie dazu. Sie geht dann immer nur kurz grüßend vorbei. Keiner im Haus hat wirklich Kontakt mit ihr. Lisa hat knapp die Fünfzig überschritten und soweit die Hausbewohner wissen, nie einen Freund gehabt. Immerhin ist Lisa vor 6 Jahren im Schloss Hurra eingezogen – da lebten Bud, Horst und Bastian schon dort. Aber alle trauen Lisa zu, dass sie es geschafft hätte, einen Freund vor allen so zu verstecken, dass es tatsächlich keinem aufgefallen wäre. Aber Lisa mit Freund, das kann sich keiner aus dem Haus vorstellen. Bisher hatte nur Katharina, die alle Katha nennen, und die direkt über Lisa lebt, mal einen Blick in ihre Wohnung werfen dürfen. Katha, die nach dem Kunststudium in den Lehrerberuf reingeschlittert war und zurzeit einen Oberstufenkurs auf Seminarfahrt begleitet, hatte sich von Lisa ein Buch zum Thema ‚Kooperation als Evolutionsmerkmal‘ ausgeliehen, und es irgendwie geschafft, Lisa an der Wohnungstür so in eine spannende Diskussion zu verwickeln, dass diese sie in ihr Arbeitszimmer bat und ihr noch andere Bücher zu dem Thema zeigte. Katha erzählte nachher, die Wohnung sei bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft, aber Lisa habe den absoluten Überblick, wo jedes einzelne Buch stehe. Die Beschreibung der vielen Bücher hatte Thea fasziniert, da sie selbst Bücher zu allen möglichen Themen verschlingt und hätte so gern mal einen Blick in Lisas Privatbibliothek geworfen.

Eigentlich ist Lisa eine Frau, die wahnsinnig spannend ist, mit ihren Büchern, mit ihrem Psychologiestudium, mit ihrem sicher schier unendlichen Wissen, ihrem Zynismus und ihrer Analysefähigkeit”, denkt Thea und überlebt krampfhaft, was sie nun sagen soll. Thea ist eigentlich eine, die drauflos schwatzen kann wie eine Elster, aber Lisa schüchtert selbst sie etwas ein. “Wie ein schwarzer Rabe kommt Lisa mir manchmal vor. Aber eigentlich mag ich doch Raben”, fällt Thea auf.

Es ist dann Lisa, die das peinliche Schweigen bricht.

“Deine Kinder sind schon in der Schule?”, fragt Lisa. Es klingt fast ehrlich interessiert.

Das Lisa gerade das Thema Kinder als Gesprächseinstieg nimmt!”, wundert sich Thea und laut sagt sie: ”Ja, schon vor anderthalb Stunden. Vielleicht das letzte Mal, es geht das Gerücht um, dass schon nächste Woche ab Montag die Schüler alle zu Hause bleiben sollen.”

“Was hältst du von dem Lockdown, der vielleicht kommen soll?”, fragt Lisa geradeaus.

Thea fühlt sich wie vor den Kopf gestoßen von Lisas völlig direkten Art. Corona-Maßnahmen sind ein heikles Thema, man muss immer erst mal vorsichtig herantasten, auf welcher Schiene der Gegenüber fährt, ehe man sich zu so oder so eingefärbten Aussagen hinreißen lässt.

“Ich weiß nicht”, sagt Thea verunsichert, “ich sehe das alles etwas kritisch. Ich habe ja viel gelesen, finde die Berichterstattung sehr einseitig, es wird viel Angst geschürt, aber es ist sicher auch nicht zu spaßen mit den vielen alten Menschen, die daran leicht zu sterben scheinen…”.

“Würdest du deine Kinder zu Hause lassen, wenn du man es nicht anordnen würde?” Lisa guckt Thea unverwandt an.

Wie haselnussbraun und groß ihre Augen sind! Toller Kontrast zu ihren dunkelgrauen Haaren”, fährt es Thea durch den Kopf. Dann schüttelt sie sich innerlich. “Himmel, was für ein Blödsinn fällt mir jetzt auf, gibt es auch Übersprungs-Gedanken, als mentales Gegenstück zu den Übersprungshandlungen?”, fragt sie sich verwundert. Aber irgendwas muss sie jetzt antworten. Sie zögert, dann sagt sie einfach:

“Nein.”

Lisas Blick verrät nicht, wie sie Theas Antwort aufnimmt.

In dem Moment geht die große Eingangstür knarrend auf und ein gehetzt aussehender Dennis kommt herein gestolpert.

“Puh, sorry, entschuldigt, Annas Zug hatte Verspätung, ich habe noch mit ihr gewartet, ob er vielleicht ganz ausfällt, dann hätte ich sie irgendwie nach Eichenhof fahren müssen, aber er kam dann doch noch.” Wenn Dennis versucht schnell zu reden, dann fällt er über seine eigenen Worte wie andere über ihre Füße.

“Alles gut, Dennis, es ist erst viertel nach neun, wir haben ja keinen Termin, du musst dann nur pünktlich im 11 Uhr im Labor sein, Lisa und ich haben den Vormittag keinen Druck.

“Ja, ihr habt Recht.” Dennis entspannt sich etwas, aber nicht sehr.

Alle gehen zum Auto, Lisa selbst wählt sofort die Rückbank, und Thea setzt sich auf den Beifahrersitz. Dennis startet den Motor der VW Familienkutsche und lenkt den Wagen langsam auf die Landstraße.

“Was machen wir eigentlich, wenn die uns gar nicht reinlassen?”, fragt Dennis.

“Ja, das habe ich mir auch schon überlegt. Dann bitte ich unten, wenigstens mit ihm telefonieren zu dürfen. Aber hoffen wir mal, dass wir rein dürfen”.

An der Krankenhausrezeption lassen sie die drei tatsächlich nicht hinein. “Covid-Regelung!”, schleudert man Thea entgegen, als würde jedes zusätzliche Wort auch mehr Viren verbreiten.

Aber Thea wäre nicht Thea, wenn sie nicht mit Freundlichkeit und Eloquenz etwas mehr erreicht als andere. Sie darf mit ihm telefonieren.

“Westerfeld”, meldet sich eine matte Stimme am anderen Ende.

“Ja, hallo, hier ist Thea Neuhaus, ich wohne in dem Haus in der Caldenburger Landstraße Nr 5. Im Schloss Hurra… Ich habe Sie gestern gefunden. Ich stehe hier unten an der Krankenhausrezeption.” Mehr sagt Thea vorerst nicht. Das muss sich beim Gegenüber in der Leitung erst mal setzen.

Dann ein leises: “Ich komme runter. Warten Sie.”

“Gut, ich warte vor dem Eingang. Ich darf nicht weiter rein in das Gebäude.”

Thea legt auf, bedankt sich mit einem großen Lächeln bei der Frau am Empfang und geht zu Lisa und Dennis, die draußen vorm Einfang warten.

“Er kommt raus”, verkündet sie triumphierend.

Alle drei stehen und starren gebannt auf die gläserne Eingangspforte des Krankenhauses. Lisa ist sichtlich nervös. Dennis guckt immer wieder auf die Uhr. Warum, weiß er nicht, er hat genug Zeit, aber vielleicht will er wissen, wie lange sie schon warten.

Thea tritt von einem Fuß auf den anderen, versucht sich zu erinnern, wie er aussah. Ob sie ihn wiedererkennen wird?

Die Tür geht auf und ein kleiner Mann mit einem Kopfverband, unter dem ein paar graue dünne Haare herausgucken, kommt unsicher auf sie zu. “Er ist viel älter als ich ihn eingeschätzt hatte. Der ist mindestens sechzig!”, fährt es Thea durch den Kopf. “Wie ein Schwerverbrecher sieht er echt nicht aus”, flüstert Thea den anderen zu. Dennis muss unweigerlich etwas lachen. Lisa guckt den Mann entsetzt an, sie scheint Thea gar nicht gehört zu haben.

Thea holt einmal tief Luft und geht auf den Mann zu, die beiden anderen folgen ihr vorsichtig.

“Herr Westerfeld?”, spricht Thea ihn sanft an. Etwas in ihm löst unweigerlich Mitleid aus.

Der Angesprochene fährt in sich zusammen.

“Ja, ja, Frau … wie war gleich ihr Name?”, sagt der Mann geschwächt.

“Frau Neuhaus. Es geht Ihnen noch nicht so gut, kommen Sie, dort vorn ist eine Bank, vielleicht wollen Sie sich lieber setzen? Dies hier ist Dennis Klapproth, er hat bei Ihnen erste Hilfe geleistet und das”, – Thea zeigt auf Lisa -,” ist Lisa Brecht, sie wohnt auch in dem Haus.”

“Ah, ja, vielen Dank, junger Mann, dass Sie sich um mich gekümmert haben. Die Polizei war gestern ja auch schon da.” Er geht wackelig zu der Bank und setzt sich. Thea will ihn stützen, aber Dennis macht ihr ein Zeichen.

“Ach ja, Corona, Abstand halten. Aber wenn er das Gleichgewicht verliert, soll ich ihn dann hinfallen lassen, um mich ihm nicht zu nähern?”, denkt sie etwas verzweifelt. Ihr Instinkt, alten Menschen Türen aufzuhalten, in den Bus zu helfen und ihnen Dinge aufzuheben, die ihnen herunterfallen, ist stark in der Bredouille. “Boah, dieses Gefühl, nicht mehr körperlich anderen Menschen helfen zu dürfen, ist furchtbar”, fährt es Thea durch den Kopf. “Für Lisa ist es weniger ein Problem, sie nähert sich ja anderen Menschen sowieso ungern, aber wie geht es Dennis?”, fragt Thea sich und wirft ihm einen Blick zu. Auch ihm fällt es schwer. Er geht gut anderthalb Meter neben Herrn Westerfeld her und hält die Arme in der Luft in einer Position, als würde er ihn stützen – aber aus der Entfernung. Es sieht irgendwie lächerlich hilflos aus.

Alexander Westerfeld schafft es dann auch allein bis zur Bank und lässt sich darauf niedersinken.

Alle drei beobachten ihn mit einer Mischung aus einem sie zurückhaltendem Mitgefühl und unterdrückter Spannung. Thea runzelt die Stirn. “Aber er hat gestern noch mit einer Brechstange hantiert – wenn auch einer sehr kleinen. Es muss die Verletzung sein, die ihn so schwach macht”, überlegt Thea, “aber dennoch verstehe ich jetzt, wie ihm der Stein auf den Kopf fallen konnte.”

“Ich, …”. Herr Westerfeld hält kurz inne, starrt auf den Boden. Dann sieht er zu den dreien hoch. Er holt tief Luft. “Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.”, sagt er dann ungewöhnlich fest für sein vorheriges Auftreten.

Allerdings!”, denkt Thea vehement.

“Also, ich bin Historiker, müssen Sie wissen”, setzt er an.

“Ein sehr großer sogar! Ich habe alle Ihre Bücher gelesen und war auf all Ihren Vorträgen!”, entfährt es Lisa plötzlich. Thea und Dennis drehen sich völlig überrascht zu ihr um.

(…)

Ausschnitte aus Teil 2: Während des Lockdowns, Mitte März bis Mai 2020:

Kapitel 10: Lisa zwingt Thea auf das Meditationskissen

“Johanna, kannst du mal das Wohnzimmer ein bisschen freiräumen, bitte?!”, fordert Thea ihre Tochter scharf auf.

“Ja, mach ich noch”, antwortet ihre Tochter in wenig überzeugendem Tonfall.

“Bitte JETZT!”

“Ey echt jetzt, hat das nicht Zeit? Ich mach’ das schon!”

“Nein, hat keine Zeit, ich bekomme gleich Besuch!” Thea steckt den Kopf durch Johannas Tür, sie merkt, dieser Renitenz ist nur mit Präsenz entgegenzuwirken.

“Hä, wer kommt denn jetzt zu Besuch, wir sind mitten in Corona-Lockdown!”, fragt Johanna so fassungslos, dass sie sich sogar entschließt, von ihrem Handy aufzusehen und ihrer Mutter den Kopf zuzudrehen.

“Lisa. Das ist ja dasselbe Haus und nur ein Stockwerk drüber.”

“Zwei Stockwerke.”

“Das macht für den Virus vermutlich nicht den fundamentalen Unterschied.”

“Für die Behörden auch nicht”, grinst Johanna frech, “verboten ist es so oder so.”

“Hey, hallo? Wenn hier einer im Haus den Virus hat, dann schwirrt der im Hausflur und wir kriegen den alle. Das macht wohl kaum einen Unterschied!

“Das Virus, Mama. Alle Zeitungen schreiben „das“. Es soll ja aber angeblich auf Klinken nach 20 Minuten verschwinden.”

“Der Duden lässt beides zu, der Virus und das Virus. Die Presse und die Politiker haben sich für „das“ entschieden, aber ich habe mein Leben lang „der“ gesagt. Und man weiß nur sehr wenig, alles noch Vermutungen. Das ändert sich stündlich, wie der Virus sich überträgt, was schützt, was nicht, wie er in den Körper eindringt…. Und sowieso: wie oft gehen wir bei dem schönen Wetter rein und raus und fassen die Klinke an? Sicher oft mit einem zeitlichen Abstand von weniger als 20 Minuten. Die, die Angst haben, sollten in Mietshäusern eh’ besser aus den Fenstern klettern, die Tür verriegelt und verrammelt lassen und sich vom gehorteten Klopapier ernähren.” Lockdown mach zynisch.

Johanna lacht. “Ja, ja, ich sach’ ja nur. Is’ mir eh egal, ich treff’ morgen auch Sarah, die ihren Papa hier besucht und bis Ende der Woche hierbleibt.”

“Na siehste, Viren frei Haus auch von außen…”, grinst Thea, “Besuche von Minderjährigen ihrer getrennten Elternteile und umgekehrt ist ja erlaubt.”

“Du, Mama, das ist schon das zweite Mal, dass du dich mit Lisa triffst – du hattest doch vorher auch nichts mit ihr am Hut.”

“Ja, weiß auch nicht. Seit die mit im Krankenhaus war, den Westerfeld aufsuchen, wir dann alle am nächsten Tag im Archiv recherchiert haben, und jetzt hier eingesperrt ins Haus im Shut-down… da hat sich das irgendwie ergeben… Also, räumst du nun das Wohnzimmer auf?”

“Jaaa, ok…”, seufzt Johanna mit leidensvoller Stimme und erhebt sich demonstrativ langsam und verschwindet im Wohnzimmer. Thea geht in die Küche, setzt Wasser auf und schüttet grünen losen Tee in einen Filter.

“Fertig!”, ruft Johanna und man hört ihre Zimmertür, die zuschlägt.

“So schnell?”, murmelt Thea, “dann kann sie ja nicht viel aufgeräumt haben.”

Aber sie kann das nicht mehr kontrollieren, es klopft schon an der Tür. Lisa klopft immer, als gäbe es keinen Klingelknopf. Thea macht ihr die Tür auf und strahlt sie an. Thea strahlt meistens, das ist nichts Besonderes, darum reagiert Lisa auch nicht, verzieht nur ganz leicht ihren Mund zu einem gequälten Lächeln.

”Hi”, murmelt sie.

“Hallo Lisa, komm’ rein! Geh schon mal durch ins Wohnzimmer, da lang, ich komme gleich mit dem Tee. Aber guck dich nicht allzu kritisch um, Johanna hat aufgeräumt, was keinen großen Unterschied macht zu nicht-aufgeräumt-haben.”

“Ja, Pubertierende…”, bemerkt Lisa, mehr zu sich selbst als zu Thea, aber jeder, der sie kennt, weiß, was sie damit meint: “Gut, dass ich mich damit nicht rumschlagen muss.”

Thea überhört das auch geflissentlich und holt den Tee. Ihr ist sofort das Buch in Lisas Hand aufgefallen und das macht sie sehr neugierig. Als sie mit der Kanne und den Tassen zu Lisa ins Zimmer kommt, steht Lisa noch immer, aber das Buch liegt auf dem Tisch, neben Johannas Französischheft, die während ihrer Lieblingssendung Vokabeln gelernt hat und vermutlich gleichzeitig am Handy hing. Die wahren Meister des Multitasking sind nicht überarbeitete Mütter, sondern Jugendliche.

Lisa zeigt auf das Buch: “Ich habe dir das mitgebracht. Es passt gerade sehr zu augenblicklichen Situation, auch wenn es 2014 geschrieben wurde. Aber man könnte meinen, er hätte das schon antizipiert.”

“Welches ist das?”, fragt Thea ehrlich interessiert. Wenn Lisa ihr ein Buch mitbringt, dann kann das nicht irgendein Schrott sein. Thea stellt Teekanne und Tassen ab und greift danach.

“Bertrand Piccard. Die richtige Flughöhe”, liest sie, “worum geht es da? Irgendwie habe ich den Namen schon mal gehört.”

“Der ist 2016 mit der Solar-Impulse um die Erde geflogen.”

“Ach ja, jetzt weiß ich mit einem solarbetriebenen Flugzeug. Waren sie nicht zu zweit?”, fragt Thea.

“Ja, noch ein André Borschberg war dabei. Zwei Schweizer.”

“Das Buch ist jetzt aber…”, Thea dreht es um…

“…von 2014, ja,” ergänzt Lisa, “Also davor. Aber 1999 ist der Typ schon mal mit einem Heißluftballon um die Erde geflogen.”

“Wow, ein echter Abenteurer also. Hatte der nicht auch abenteuerliche Vorfahren?”

“Ja, sein Großvater Auguste Piccard war in den 30er Jahren in der Stratosphäre unterwegs, sein Vater Jaques in den 60ern mit einem U-Boot auf dem Meeresgrund, mit dem ‘bathyscape’.”

“Genau, da war was…”, nickt Thea.

“Aber Bertrand Piccard ist nicht nur Hobby- und Abenteuer-Pilot, sondern auch Psychiater”, erklärt Lisa weiter, “und in dem Buch geht es darum, wie man mit unerwarteten Veränderungen im Leben umgehen sollte… Ich habe lange überlegt, welches Buch ich dir zu dem Thema mitbringe. Es gibt natürlich viele und auch viele Gute. Es gibt sicher auch bessere als dieses. Aber erstens ist ein guter Einstieg und zweitens…”, – Lisa stoppt einen kurzen Moment und Thea sieht sie erwartungsvoll an. Inzwischen kennt sie sie gut genug, um zu wissen, dass sie nach so einem Suspense irgendeinen Knaller kommt.

“Und zweitens dachte ich, wo dein Liebhaber doch auch Hobby-Pilot ist und du doch sicher schon mit ihm mitgeflogen bist”, haut Lisa dann tatsächlich den Knaller heraus.

“Wo… woher weißt du, dass mein… Liebhaber… Hobbypilot ist?”, fragt Thea verdattert, “und woher weißt du überhaupt, dass ich einen Liebhaber habe?”, schiebt sie in Gedanken hinterher. “Naja, das hat wahrscheinlich sicher schon jeder im Haus gehört”, überlegt Thea dann und wird leicht rot bei dem Gedanken.

“Weiß ich halt. Aber lies das Buch mal, es ist nett geschrieben. Es ist ein charismatischer Mann.”, weicht Lisa aus.

Thea blickt auf den Umschlag. Zwei stahlblaue intelligente Augen blicken sie vom Buchumschlag an. “So richtig sympathisch sieht er aber nicht aus”, murmelt Thea.

“So richtig sympathisch ist er auch nicht. Egomanisch, sehr selbstsicher. Aber er hat was auf dem Kasten. Er beschäftigt sich viel mit Hypnose.”

Thea guckt wieder auf das Buch und in diese klaren, durchdringenden Augen: ”Ja, Hypnose, das passt…”.

“Hypnose ist nicht so, wie du dir das vorstellst, Thea”, grinst Lisa und es sieht aus, als würde sich ganz viel feines Seidenpapier um ihre Augen zusammenschieben. Sie lächelt selten, das sieht man den Fältchen an. “Du darfst dir da nicht so einen Typen mit solchen Augen vorstellen”, und sie zeigt auf das Buch, “der dich anstarrt und dich hypnotisiert wie eine Schlange.

Thea lacht. “Ich weiß, Lisa, ich habe mal einen kurzen Artikel über Hypnose geschrieben, wie er in der Psychotherapie angewendet wird. Dennoch fiel mir bei der Recherche auf, dass viele Hypnotiseure dennoch so einen stechenden, durchdringenden Blick haben. Vielleicht ist es bloß das Beschäftigen damit, die die Therapeuten dann so ‘durchdringend’ von ihrer Persönlichkeit her machen, dass sich das in ihrem Blick spiegelt.”

Lisa überlegt kurz und scannt im Geiste alle bekannten Hypnotiseure durch, die sie kennt. “Ja, vielleicht hast du recht”, lächelt sie.

Thea legt das Buch wieder neben Johannas Französischheft auf den Tisch. “Ja, vielen Dank Lisa, das ziehe ich mir in jedem Fall mal rein”, sagt sie und lässt sich aufs Sofa fallen, direkt auf die Fernbedienung, die Vokabelkarten und das Federmäppchen von Johanna. Jetzt endlich setzt sie sich auch Lisa, erstmal auf die Kante des Sofas. Sie wird später überlegen, ob sie sich wohl genug fühlt, sich weiter in die Polster hinein sinken zu lassen.

“Sich auf veränderte Situationen einstellen“, greift Thea das Thema wieder auf, „das ist allerdings gerade super aktuell. Für Elias war das echt schwer, sich damit abzufinden, dass er nicht in den Osterferien wie geplant zu seinem Austauschpartner nach Italien fliegen kann! Er war fest entschlossen, trotz der strengen Ausgangssperren und Androhung von Quarantäne beim Zurückkommen hinzufliegen. Wir haben uns heftig gestritten und es war ganz furchtbar. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass es so ist, wie es ist und dass wir uns mit der Situation abfinden müssen. Vielleicht sind die Maßnahmen, richtig, vielleicht sind sie falsch, aber gar nichts machen, geht auch nicht. ”

“Was richtig und falsch war, weiß man meist erst hinterher, und auch das nicht immer. Vielleicht werden wir nie wissen, ob das richtig war, was wir jetzt tun.”, antwortet Lisa tonlos. Sie scheint in Gedanken eigentlich woanders zu sein.

Dann platzt sie plötzlich raus: ”Bis du denn schon mal mit ihm mitgeflogen, Thea? Was fliegt er denn?”

“Was? Wer?”

“”Na, dein Liebhaber, – wie heißt er?” In Lisa kommt auf seltsame Art Leben.

“Paul”

“Paul? Echt? Paul heißt er?” Lisa hebt spöttisch eine Augenbraue.

“Ja, wieso darf ein Liebhaber nicht ‘Paul’ heißen?”

“Klingt nicht sehr…”, Lisa sucht nach dem richtigen Wort.

“Erotisch, meinst du?”, und Thea grinst nun über beiden Ohren. Lisa ist schon ein komischer Vogel, aber sie fängt an, sie tatsächlich zu mögen. Lisa stimmt zu, in dem sie auch die andere Augenbraue zustimmend anhebt.

“Wie stellst du dir den Namen eines Liebhabers vor? So mit italienischem Gigolo-Flair „Giamcarlo“, oder ein wild romantischer „Siegfried“? Der dann zu einem Mann mit blonder Wallemähne passt, der eine Leiter ans Fenster stellt und sich mutig und leise wie in Wiesel hinaufschwingt?”

“Naja, so natürlich nicht. Eine Leiter braucht es bei dir im Erdgeschoss ja auch nicht.“ Lisa bleibt logisch-pragmatisch.

“Du hast zu viel Oskar Wilde gelesen”, grinst Thea.

“Stimmt,” lacht Lisa trocken auf, “den habe ich tatsächlich viel gelesen. Aber da war ich 15.”

Thea grinst in sich hinein. Das passt zu Lisa, dass sie in einem Alter, wo ihre Tochter Johanna jugendliche Liebesromane mit so Titeln wie: ’43 Gründe, warum es aus ist’ oder Phantasy-Abenteuerromane von Jessica Townsend „Nevermoor: Fluch und Wunder“ verschlingt, Lisa Oskar Wilde gelesen hatte.

“Und wahrscheinlich Shakespeare und Sartre oder Camus.”, ergänzt Thea.

“Ja, die auch alle. Und Hesse und Hemingway. Also, bist du nun schon mit ihm geflogen?” Wenn Lisa sich festgebissen hat, gibt sie nicht auf.

 “Ja, bin ich. Er fliegt ein Ultraleicht-Flugzeug, eins, wo die Türen durchsichtig so weit runterreichen, dass man direkt nach unten sehen kann. Es war atemberaubend! So ein Gefühl von Überwältigtsein hatte ich wirklich selten, mir bubberte mein Herz bis zum Hals vor Freude. Ich war aber auch nur einmal mit”, sprudelt Thea los und ihr geht jetzt noch das Herz über, wenn sie daran denkt.

Auf Lisas Gesicht erscheint so etwas wie ein neidvoller Blick, der Thea nicht entgeht.

“Bist du schon mal geflogen, mit so einem kleinen Motorflugzeug, meine ich?

“Nein”, flüstert Lisa, “ich glaube, ich hätte auch viel zu viel Schiss, obwohl ich es eigentlich gern mal würde.

„Dann solltest du es vielleicht gerade mal machen? Deine Komfortzone verlassen, wie die Lebenshilfe-Coaches, die jetzt überall aus dem Boden schießen wir die Pilze, immer so schön postulieren. Auf dem Sportflughafen in Eichenhof bieten sie auch Rundflüge an, ab 30 €.“

„Meine Komfortzone zu verlassen, das habe ich schon damit getan, dass ich hier bei dir sitze.“ Es soll ein Scherz sein, aber Lisas Blick weicht dennoch verlegen dem von Thea aus.

„Ich finde es schön, dass du hier sitzt“, kommentiert Thea das in ihrer typischen fröhlichen Art, die bei Lisa jedoch immer auf etwas Widerstand zu stoßen scheint. Lisa zuckt zusammen.

„War das jetzt falsch, hätte ich das nicht sagen sollen?“, fragt Thea sich und rutscht etwas unruhig in ihrer Schneidersitzhaltung hin und her. Lisa guckt auf Theas Sitzhaltung, die für diese typisch ist. Thea kann nie gesittet auf einem Stuhl oder Sofa sitzen, immer hat sie irgendein Bein untergeschoben, sitzt überkreuzt oder irgendwie mit anwinkelten Knien.

„Wieso fängst du nicht an zu meditieren?“, platzt Lisa raus.

Thea guckt verblüfft. „Ich mache doch schon Yoga.“

„Ja, aber du machst Yoga wie einen Gymnastiksport, nicht wie ein Achtsamkeitstraining. An was denkst du, wenn du die Asanas ausführst?“

„Öh, weiß nicht, an irgendwas halt.“

„Du sollst nicht an irgendwas beim Yoga denken, du sollst dich nur auf deinen Atem und die jeweilige Bewegung beziehungsweise Position konzentrieren.“

„Dann wird mir langweilig.“

„Dir wird immer schnell langweilig, oder?“, bohrt Lisa nach.

„Nein, gar nicht, wenn ich an einem Artikel schreibe und recherchiere, dann bin ich voll im Flow, dann kann ich Stunden einfach nur…“

„Nein, das meine ich nicht,“ unterbricht sie Lisa, „ich meine, dir wird schnell langweilig, wenn du etwas machst, was dich nicht in Flow setzt, was dich mal nicht mitreißt, begeistert, aufwühlt, was dir nicht irgendwie einen Kick versetzt.“

„Mich kann auch ein gutes Buch oder ein interessantes Thema voll mitreißen…“, verteidigt sich Thea und fragt sich, worauf Lisa hinauswill. Sie ist nicht mehr ganz sicher, ob sie Lisa wirklich immer noch mag.

„Dich mit Wissen vollstopfen, das versetzt dich ja in Begeisterung, ich meine eine Tätigkeit, die dich nicht in Wallungen bringt. Abwaschen zum Beispiel, jemanden zuhören, der was Uninteressantes erzählt, ein Formular ausfüllen – keine Ahnung, für das Kindergeld zum Beispiel, oder was du da so hast.“

„Beim Abwaschen höre ich einen Podcast, wenn jemand was Langweiliges erzählt, schalte ich ab und mache mir spannende Gedanken, und Formulare ausfüllen ist eine grässliche Qual für mich.“

„Anstatt dich dann abzulenken, hast du mal versucht, einfach die Langeweile auszuhalten?“

„Nein, wieso sollte ich? Lisa, worauf willst du hinaus? Wieso sollte ich mich langweilen lassen, das Leben ist voll mit langweiligen Sachen, es geht darum, dass man sich die spannenden herauspickt. Wann hattest du das letzte Mal richtig Spaß, hast gelacht und gedacht: ‚das Leben ist schön‘?“

„Das Leben ist keine Kirmes“, gibt Lisa vehement zurück.

„Aber auch kein Trauerverein! Ein Tag, an dem man nicht gelacht hat, ist ein verlorener Tag. Du bist Psychologin, Lisa, du solltest zumindest theoretisch wissen, wie wichtig Lachen für die Psyche ist. Wann hast du das letzte Mal herzhaft gelacht?“ Thea kennt die Antwort eigentlich schon.

Lisa kneift die Lippen zusammen. Stille. Die hält Thea aber nicht lange aus.

„Ok, Lisa, ich weiß, worauf du hinauswillst. Ist ja nicht so, dass ich nie was von Achtsamkeit und dem Benefiz von Meditation gehört hätte. Und natürlich habe ich es schon probiert. Auch im Yogakurs macht unsere Lehrerin immer zehn Minuten Meditation und ich versuche, da auch immer mitzumachen, weiß daher aber, wie verdammt schwer es mir fällt“.

„Thea, fang an. Setzt dich vor eine weiße Wand und beobachte deinen Atem. Und nur das, ohne an was anderes zu denken.“ Lisas Blick wird ernst, das Thema scheint ihr wirklich am Herzen zu liegen. Ist es der Lockdown oder wollte Lisa ihr das schon lange sagen, hat nur nie die Gelegenheit gehabt, fragt sich Thea.

„Und ohne vorher eine halbe Flasche Rotwein getrunken zu haben!“, fügt Lisa jetzt noch schnell hinzu.

„Ok,“ grinst Thea frech, “dann währenddessen“?

Lisa lässt sich auf den Humor nicht ein. „Auch nicht dabei. Am besten lässt du das Alkoholtrinken einfach mal ganz für eine Zeitlang.“

„Ganz? Das schaffe ich nicht“. Thea zwinkert Lisa aufmunternd zu und versucht, sie in eine entspanntere Stimmung zu bringen. Hoffnungslos.

„Das sollte dir zu denken geben“, antwortet Lisa stattdessen nur trocken.

„Das gibt mir schon lange zu denken. Aber zurück zur Meditation: Muss es eine weiße Wand sein? Kann ich nicht auch einen besinnlichen Wald gehen?“ Thea gibt nicht auf, etwas mehr Lockerheit ins Gespräch zu bringen.

„Da lenkt dich zu viel ab. Aber gut, vielleicht ist das für dich zu anfangs dennoch genau das Richtige. Aber Thea, Meditation, das ist nicht einfach ein neuer Kick. Das ist nicht, wie du mal wieder eine andere Sportart ausprobierst, einen anderen Verlag ausprobierst, mal versuchst, wie es ist, einmal pro Woche in einen Literaturkreis zu gehen…“, erklärt Lisa ernst.

„… was gerade eh alles weitgehend nicht geht…“, ergänzt Thea, aber Lisa lässt sich nicht unterbrechen:

„… sondern Meditieren und Achtsamkeit üben, das ist eine andere Lebenseinstellung, eine andere Lebensphilosophie. Das ist eine fundamentale Veränderung in deinem Leben, die du damit anstrebst und erlangen solltest.“

Thea gibt auf, es soll wohl ernst bleiben. „Ja, das habe ich schon befürchtet, seit ich mich mehr mit dem Thema angefangen habe zu befassen. Ich habe vor kurzem ein beeindruckendes Interview mit dem Mathieu Ricard, diesem französischen Molekularbiologen gesehen, der als buddhistischer Mönch ins tibetische Kloster gegangen ist. Der hat mich sehr beeindruckt.“

„Das wundert mich nicht, dass dich der Schüler des Dalai-Lamas, Matthieu Ricard, mehr beeindruckt als der Dalai-Lama selbst“, kommentiert Lisa trocken.

„Ja, der hat Speed und Lebhaftigkeit, redet nicht im Tempo wie eine Schlaftablette, wie sonst Mönche das tun. Aber zurück: ja, tatsächlich spüre ich eine gewisse Angst, damit anzufangen, mir ist schon klar, es ist eine Lebensentscheidung, anders als mit Querflöte beginnen oder zu entscheiden, dreimal am Tag Heilerde zu sich zu nehmen. Ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin.“

„Thea, das Leben ist nicht nur Spaß und von Grashalm zu Grashalm hüpfen wie ein Heupferdchen. Wenn du mal gehst – was hast du letztendlich festgehalten von dem, was du erlebt hast?

„Nichts, man kann nichts festhalten, Lisa. Das weiß ich auch.“

„Nein, eben, aber was du machen kannst, du kannst ein Lebensgefühl in dir verankern, das dir bleibt. Das nicht kommt und geht und dann musst du zum nächsten Event, zum nächsten Mann, zum nächsten Thema, das dich begeistert, solange, bis es so tief ins Detail geht und wirklich verlangen würde, sich einzuarbeiten. Dann verlierst du die Lust dran und springst zum nächsten Thema. Du monierst selbst, dass du unglaublich viel weißt, mit einem unglaublich breiten Spektrum an Sachthemen, aber du in nichts Expertin bist.“

„Und auch nicht mehr werde“, fügt Thea hinzu.

„Nein, dafür bist du zu alt. Da hättest du jung anfangen müssen.“

 „Aber das muss ich auch nicht: Ich bin ja nicht ohne Grund Wissenschaftsjournalistin geworden und nicht Genetikerin!“ Langsam wird Thea bockig.

Lisa hat sich jedoch festgebissen: „Aber was du musst, ist dir ein Grundlebensgefühl schaffen, das Kontinuität hat. Du musst wissen, wofür du hier bist, was der Sinn deines Lebens ist. Dein persönliches.“

„Was ist deins?“, haut Thea heraus.

„Die Welt begreifen und sie als sinnvoll empfinden.“, handelt Lisa das schnell ab und geht sofort wieder zu Thea über: „Aber dein Sinn kann ein völlig anderer sein.“

„Empfindest du es als sinnvoll, dich zurückzuziehen und über die Welt aus dem Elfenbeinturm nachzudenken?“, hakt Thea provokant nach.

„Wieso Elfenbeinturm? Ich habe eine Praxis, zu mir kommen jeden Tag viele Menschen, die mir ihr Leben erzählen, ich…“

„… aber auf keinen lässt du dich ein! Niemanden lässt du an dich ran“, unterbricht sie Thea vehement.

„Das stimmt nicht, was weißt du über mein Leben!“. Lisa wird stocksteif und ihre Gesichtszüge verhärten sich.

Sie klappt zu wie eine Auster,“, denkt Thea bedauernd, „ich bin zu weit gegangen.“

„Ok, Lisa, du hast recht, ich kenne dein Leben nicht, – du meins ja auch eigentlich nicht. Ich soll mich deiner Meinung nach also in Mediation und Stillsein üben, in Langeweile aushalten, meinen ‚monkey mind‘, wie ihn die Buddhisten nennen – du siehst, Lisa, ich habe mich schon damit beschäftigt – in den Griff kriegen und den ‚Sinn meines Lebens‘ finden.“

Lisa nickt mit zusammengekniffenem Mund.

„Den Sinn meines Lebens kenn ich übrigens schon: ‚Ständig dazulernen, in jeder Hinsicht und das aber mit Freude am Leben‘. Ok, ich mach’s, heute Abend auf dem Spaziergang mit dem Hund fange ich damit an, mit dem Meditieren. Im Übrigen habe ich das Gefühl, das mit dem Sinn noch was anderes gemeint ist, als wie wir beide das interpretieren.“

„Vielleicht kommt es dir ja, wenn du weniger nachdenkst und mehr in dich rein lauschst“, murmelt Lisa und beide spüren, dass Lisa ahnt, dass das, was sie Thea vorhält, genauso für sie selbst gilt.

Beide gucken angespannt zu Boden. Man hört, wie die quäkige Stimme des Youtubers ‚Inscope 21‘ sich nähert und wieder entfernt, als Elias mit seinem Handy vor der Nase von seinem Zimmer vorbei an der offenen Wohnzimmertür in die Küche geht.

Es ist Lisa, die das Gespräch vorsichtig wieder anknüpft:

„Hast du jemals ein Buch geschrieben oder immer nur Artikel?“

„Ich habe es versucht, auch schon viele angefangen, aber mit den Kindern war einfach keine Zeit, dass…“, will Thea sich gerade rechtfertigen und verstummt dann. Sie spürt plötzlich, dass es eine Ausrede ist, jahrelang war.

„Nein, habe ich nicht“, setzt Thea wieder an, „aber ich würde es eigentlich sehr gern. Irgendwie ist es ein Traum von mir. Mal richtig in die Tiefe gehen, durchhalten, und am Ende ein großes Werk geschaffen zu haben, nicht nur Gestückele. Vielleicht ist es der eine große Traum.“

„Mein Traum ist es, dass es einen Menschen in meinem Leben gibt, dem ich vertrauen kann“, murmelt Lisa.

Die beiden Frauen sehen sich an.

„Heute Abend fange ich an mit dem Meditieren. Und kein Alkohol heute, versprochen.“, sagt Thea leise.

****

Am Abend nimmt Thea neben der Hundeleine ihr kleines Yogi-Kissen mit, als sie die Wohnung verlässt. Als sie die Tür hinter sich zuzieht, kommt Roland die Treppe herunter und das Knarren der alten Stufen hallt sich wie immer durch den ganzen Flur. Johanna und Elias haben es sich zum Spaß gemacht, anhand des Rhythmus‘ des Knarrens zu erraten, wer gerade über die Treppe läuft und ob jemand hoch oder runter geht.

„Hi, Thea. Wieso nimmst du ein Sitzkissen mit auf deinen Hundespaziergang?“, fragt Roland sie erstaunt.

„Ich gehe meditieren!“

„Meditieren? Solltest du nicht was Sinnvolleres machen? Der Lockdown muss uns ja nun nicht zur Untätigkeit verdammen, gerade du als Journalistin kannst doch voll weiterarbeiten. Wir müssen doch nicht die Hände in den Schoß legen!“, kommentiert Roland spöttisch und es hat was von oben herab.

„Nicht in den Schoss, Roland! Das hast du falsch verstanden: Ins Chin-Mudra auf die Knie müssen die Hände!“ und Thea breitet sie Arme aus, streckt die Hände, bringt Daumen und Zeigefinger in einer Meditationshaltung zusammen und brummt mit sonorer Stimme: „Oooohmmmm.“ Dann zwinkert sie Roland schelmisch zu, pfeift nach ihrem Hund und verschwindet durch die große Haustür nach draußen. Roland guckt ihr grinsend, aber mit Zweifeln im Gesicht hinterher. 

Leseprobe Ende