Leseproben von Kurzgeschichten und Erzählungen rund um die Liebe. Die rationale Liebe zum Wissen, die blinde Liebe zu einem Mann oder einer Frau, die verzehrende Liebe zu einem Kind, die alles beherrschende Liebe zur Kunst, die toxische Liebe zum Alkohol, die unabwendbare Liebe zum Schreiben. Wenn genug Geschichten zusammen gekommen sind, veröffentliche ich sie in einem Band. Den Link findet man dann hier.

Nur noch eins

Foto: Polina Tankilevich (pexels.com)

Nur noch eins. Ein Einziges. Oder ein Halbes.
Chloé steht auf, hält sich einen Moment lang an der Schreibtischkante fest. Sie merkt es schon im Kopf, viel verträgt sie nicht.
„Mama, ich brauche für Morgen noch eine Entschuldigung, dass ich Sport nicht mitmachen kann!“ brüllt Suzy vom Flur in Chloés Arbeitszimmer.
Ach ja, Mist, das hat sie vergessen.
„Mach ich morgen früh, versprochen“, sagt sie und nickt ihrer Tochter zu, während sie zur Küche geht.
„Aber nicht vergessen, ja?“, nörgelt ihre Tochter, die derweil ins Bad verschwindet, um ihre Pubertätspickel mit Gesichtswasser und Cremes zu malträtieren.
Chloé stellt das leere Weinglas auf den Tisch, holt die Weinflasche aus dem Kühlschrank und gießt sich ein halbes Glas ein. Schraubt den Deckel zu. Dreht ihn wieder auf, schüttet es voll. Sie betrachtet verstohlen den Flüssigkeitsstand in der Flasche, der bereits verdächtig auf die Hälfte des Volumens gesunken ist. Ein Glas hat sie nur trinken wollen, jetzt war schon wieder über die Hälfte der Flasche alle. Schnell lässt sie sie im Kühlschrank zurückverschwinden. Vielleicht würde sie es ja nicht mal austrinken, dann wäre es heute Abend weniger als eine halbe Flasche Wein. Sie geht in ihr Arbeitszimmer zurück, stellt das Glas neben den Laptop, setzt sich hin. Der Bildschirm ist schon wieder schwarz geworden, sie drückt auf die Taste, gibt das Password ein, ihr Text erscheint wieder. Sie beginnt, ihn noch mal durchzulesen: wo war sie stehen geblieben?
„Mamamama, ich finde meinen Schlafanzug nicht!“ Tim kommt ins Arbeitszimmer gerast. Im Grundschulalter tragen Jungs noch Schlafanzüge.
„Wahrscheinlich da, wo du ihn heute Morgen ausgezogen hast!“, entgegnet Chloé genervt.
„Ne, da ist er nicht! Ich habe mich im Bad angezogen!“
Sie grübelt eine Weile: „Nein, im Wohnzimmer!“
Kurze Zeit Schweigen, dann aus einer anderen Ecke der Wohnung: „Ja, hier ist er, hatte mich auf’m Sofa umgezogen, weil es hier am Wärmsten war!“ Sie seufzt. Wo war sie? Sie liest sich erneut alles noch mal durch, um wieder reinzukommen, nippt wieder am Weinglas.

(Ende der Leseprobe)

Der erste Eindruck täuscht. Der Zweite auch.

Foto: Ioana Motoc (pexels.com)

Draußen war Herbst und es stürmte. Ich saß im Café über einem Cappuccino und wollte eigentlich die Sonntagszeitung durchlesen. Ich kam aber nur bis zur Schlagzeile, als ein Kunde die Tür aufstieß und sich ein heftiger Windstoß ausbreitete. Unwillkürlich fröstelte es mich.

Ein Mann mittleren Alters, ziemlich groß und stämmig, mit einem Salafistenbart und längeren Haaren, die so zurückgekämmt waren, dass deutlich seine Geheimratsecken hervortraten, schlenderte mit schlaksigem Gang, der gemessen an seiner gewaltigen Schulterbreite irgendwie seltsam anmutete, auf meinen Tisch zu. Nachdem ich mit meinem Blick durch das Dickicht seines Bartwuchses gedrungen war, fielen mir sehr schmale Lippen auf und vermutlich ein kleines Kinn. Es war durchaus möglich, dass dieser Mann eigentlich ein Spitzmausgesicht haben würde, wenn man ihm die ganze Haarmasse herunterrasierte.

„Hey, ‘tschuldigung, ist hier noch frei?“, sprach er mich an. Er hatte jedenfalls eine Spitzmausstimme und ich musste mich zusammenreißen, nicht lauthals loszulachen. Ich nickte ihm bejahend zu. Er schälte sich aus seinem ausladenden Wettermantel, der fast bis zum Boden reichte und hing ihn über die Stuhllehne. Darunter trug er einen einfachen schwarzen Rollkragenpullover über einer ausgebeulten Jeans. Ohne den riesigen Wettermantel mit Schulterpolstern wirkte er plötzlich nur noch halb so massiv, eigentlich war er sogar hagerer Statur, zu der nun seine sehr schmale Nase, um die ihn jedes weibliche Modell beneidet hätte, optisch gut passte. Während er mit einer weichen Bewegung nach der Stuhllehne griff, suchte er mit dem Blick die Bedienung und ein kleiner Brilli in seinem linken Ohrläppchen blitze auf. Er ließ sich auf den Holzstuhl plumpsen, der nun Gott sei Dank unter seinem tatsächlichen Gewicht keine Knackgeräusche von sich gab, sondern nur ein leises „Quietsch“.

„Hallo? Einen grünen Tee bitte?“, rief er der Bedienung zu.

„Irgendwie entpuppte sich nach und sein ganzes erstes Erscheinungsbild als Fake“, dachte ich innerlich in mich hinein grinsend. Nach seinem ersten Eindruck hätte ich dem Mann niemals grünen Tee zugetraut, jetzt passte es plötzlich gut. Vermutlich meditierte er auch nach dem Aufstehen, anstatt mit der Morgenröte überhaupt erst nach Hause zu kommen, fuhr mit dem Fahrrad anstatt einem schwarzen Mercedes Benz mit getönten Scheiben und rauchte selbstgedrehte Zigaretten anstatt einer prolligen Shisha-pfeife. Aber vielleicht stimmte auch das alles nicht. Vielleicht würde ich mich jetzt zwanzig Minuten mit ihm unterhalten und sein Gesamteindruck änderte sich ein weiteres Mal komplett. Dass wir, wenn ich es zulassen würde, miteinander ins Gespräch kommen würden, stand außer Frage. Er grinste mich aus blau-grauen Augen an und entblößte eine Reihe schneeweißer, aber leicht schiefer Zähne. Er schien in schwatzhafter Laune.

„Wie ein Lächeln komplett den gesamten Gesichtsausdruck verändert“, dachte ich verblüfft und lächelte zurück. Wirkte er gerade noch ernst und verschlossen, macht er plötzlich einen angenehm offenen, sympathischen und intelligenten Eindruck auf mich. Ich betrachtete ihn nun mit unverhüllter Neugierde und war gespannt, wie er das Gespräch beginnen würde. (…)

(Ende der Leseprobe)

Das Gefängnis in mir

„Das Tor fällt hinter ihr ins Schloss. Wie vor ein paar Jahren. Nur stand sie da auf der anderen Seite. Wie fühlt man sich, wenn man rauskommt? Frei? Erleichtert? Voller Hoffnung und guter Vorsätze? Fühlt man überhaupt was? Oder nur Leere? Was fängt man an mit der wiedergewonnenen Freiheit? Viele Ideen, keinen Mut.  Keine Vorstellung, wo man anfangen soll… womit als erstes, und wie soll man es anstellen…?“

„Peng!“ Die Tür fällt in mit lautem Rumpsen zu. Marlene zuckt in sich zusammen, schreit fast auf vor Schreck.

„Verdammt noch mal, schlag‘ die Tür nicht dauernd so zu!!“ keift Marlene in Richtung Zimmer ihres voll im Blute seiner Pubertät stehenden Sohnes. „Irgendwann fällt sie noch mal aus den Angeln, dann ha‘m wir den Salat“ murmelt sie noch hinterher. Da können die Türen noch so robust sein. Genervt seufzend wendet sie sich wieder ihrem Laptop zu. Wo war sie stehen geblieben? Ach ja, ihre Protagonistin wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen. Marlene hat sich lange konzentrieren müssen, um sich in das Gefühl eines entlassenen Sträflings hineinzuversetzen. Jetzt ist sie wieder raus. Sie schliesst die Augen, stützt ihren Kopf in die Hände, legt die Fingerspitzen an die Schläfen.

„Mamaaaa!“ brüllt es durch den Flur.

„Himmelherrgottnochmal! Was ist denn??“ Vorbei. Aus. Ihre Sträflingsprotagonistin ist im Nebel verschwunden.

„Mamaaaa, ich hau jetzt ab. Haste mal zwei Euro?“

„Wofür das denn nun schon wieder?“

„Ouu, Mama, für die Straßenbahn!“

„Wieso nimmst du nicht das Fahrrad?“ Marlene sieht durchs Fenster, durch das der schönste blaue Himmel leuchtet, das ideale Fahrradwetter.

„Mama!!!“ entfährt es Tim entsetzt. „Weißt du, wie weit das ist??“

„Ja, elf Kilometer. Lächerlich für einen durchtrainierten Jungen wie dich!“

„Ja, aber weißt du, was ich alles schleppen muss??!!“

„Was denn? In deinem Zimmer liegen Gewichte, die bekomme ich nicht mal mit zwei Händen von einer Seite zur anderen geschleppt, die stemmst du mit einem Arm mehrmals in die Höhe!“

„Das ist doch was komplett anderes! Da trainiert man ganz andere Muskeln.“

„Was nutzt das ganze Muskeltraining, wenn sie dir dann im Alltag nix bringen?“

„Um Mädchen zu beeindrucken, was sonst“, seufzt Tim mit dem Blick ‚Mamas-kapieren-echt-gar-nichts‘.

(Leseprobe Ende)

„Rien“

pexels.com (cottonbro studios)

„Verdammt, kannscht du nischt einfach mal deine Schüschel in die Schpüle schtelln?“. Mia ist in die Küche geschossen gekommen und faucht jetzt ihrem pubertierenden Sohn hinterher, während sie mit dem tropfenden Pinsel quer im Mund seine Schüssel und die Müslitüte wegräumt.

„Sorry, hab ich vergessen! Das nächste Mal. Versprochen!“, er grinst und verschwindet in seinem Zimmer.

„Dasch näschte Mal schtelle isch dir allesch in dein Schzimmer!“ schimpft sie, macht die Spülmaschine zu und setzt sie in Gang. Sie nimmt den Pinsel aus dem Mund und geht in ihr „Atelier“ zurück, das nicht mehr ist als der Abstellraum neben der Küche, indem es aber ein großes Fenster gibt und der einer der lichtesten Räume der kleinen Wohnung ist. Woanders wäre auch gar kein Platz gewesen, alle drei Kinder haben ein eigenes kleines Zimmer. Mia selbst schläft im Wohnzimmer, das eh keiner als solches braucht, weil sich ihr Familienleben in der Wohnküche abspielt. Sie kehrt an ihre Staffelei zurück und muss sich wieder konzentrieren, wieder hinein in den Flow. Bis übermorgen muss sie das erste Bild abliefern.

Andererorts steigt Thomas in seinen schlammbespritzten Defender.

„Thomas, warte mal, was machen wir denn nun mit den Fichten, die können doch hier nicht ewig am Wegrand aufgestapelt bleiben“, ruft Hubert „Die Borkenkäfer werden bald drüber herfallen und dann ist ruckzuck der ganze Wald damit voll!“,  Er kommt schnell angelaufen und hält die Tür von Thomas Försterjeep fest, damit dieser auch ja nicht auf die Idee kommt, abzufahren, bevor er Hubert eine klare Antwort gegeben hat.

„Ich muss am Montag zur Klosterkammer, da rede ich mit den alten Herren. Ich möchte die Bäume unbedingt noch nächste Woche rausbringen.“

„Joa, mach das, es eilt! Der Buchdrucker fliegt bald!“ Auch Thomas graut vor dem Schlimmsten aller Forstschädlinge, der seine Brutsysteme in der Rinde der Wirtsbäume anlegt und der Albtraum aller Forstwirte ist. Hubert lässt die Tür los und Hauke zieht sie quietschend zu. Er wendet den Wagen auf der Lichtung und holpert den Weg entlang, hinaus aus dem Wald. Die Sonne geht gerade unter, während er Richtung Westen nach Hause zum Forsthaus fährt. Die goldgelben Strahlen scheinen ihm ins Gesicht und legen Ruhe über seine Gedanken. Er hat Hubert nicht gesagt, dass die Klosterkammer, die als Stiftung die Wälder bewirtschaftet, die Bäume nicht herausnehmen, sondern stattdessen mit Insektiziden besprühen möchte, damit sie noch weiter im Wald lagern können. Als Forstverwalter ist er natürlich strikt dagegen und es wird lange und ermüdende Diskussionen geben.

Bei Mia muss es dagegen nun schnell gehen. Die Tasche unter den Arm geklemmt, das Fahrradschloss in der einen Hand, das Handy in der anderen, zieht Mia die Tür mit dem Fuß zu. Sie ist beinahe zu spät für den Termin mit ihrem Auftraggeber, der für seine Physiotherapeutenpraxis mehrere großformatige Aquarelle bei ihr bestellt hat und sie mussten über seine Vorstellung der Bilder und ihrer über den Preis verhandeln. Aber sie hat gerade noch eine Nachricht bekommen, von diesem Förster, den sie morgen das erste Mal treffen wird! Die musste sie doch unbedingt noch lesen. Auf den Fotos sieht er sehr sympathisch aus, aber auch sehr … naja, wie soll man sagen? Etwas bieder und konservativ. Dennoch ist sie  gespannt und aufgeregt. Beflügelt radelt sie in halsbrecherischem Tempo durch die inzwischen dunklen Straßen und kommt fast noch pünktlich bei ihrem Auftraggeber an.

(Ende der Leseprobe)

Pippi Langstrumpf als Borkenkäfer


Du bist auf dem Holzweg, ich sage es dir! Guck dir dein Leben in den letzten 30 Jahren an, es passt einfach nicht! Du verrennst dich.“

‚Ich sitze bereits drauf, auf dem Holzweg!‘, möchte ich dieser warnenden Stimme in mir antworten, aber für solche Wortspielchen hat sie nicht viel übrig, sie möchte ernst genommen werden, wenn sie mir Ratschläge gibt. Ich spüre die leicht feuchten Planken des hölzernen Bootstegs unter meinen Händen, während ich meine Füße über dem Wasser baumeln lasse und nachdenklich über den See blicke, der sich diesig und verhangen vor mir erstreckt und in dem eine Vielzahl kleiner Inseln gibt. Meine hier ist einer der Größten. Nur verschwommen erkennt man das gegenüberliegende Ufer des Festlandes. Wenn ich nicht wüsste, auf der anderen Seite ein heruntergekommenes Landschulheim mit halb verfallenem Türmchen steht, könnte man es genauso gut für ein kleines Schloss halten. Im Nebel geht die Fantasie mit einem durch und alles erscheint mächtiger, größer, imposanter. Auch bedrohlicher.

„Sei mal ehrlich, ihr passt zusammen wie Sherlock Holmes und Pippi Langstrumpf“, fährt diese Stimme in mir fort, „er hat ein geordnetes Leben, das 40 Jahre einer konsequenten Bahn gefolgt ist, wie eine Eisenbahn auf Schienen, gut durchdacht und logisch. Du dagegen bist eine Chaotin, sehr kreativ zwar, aber völlig ziellos. Dein Lebensweg verläuft ungefähr so geradlinig wie eine holprige Serpentinenstraße in den Hochalpen. Bei ihm läuft alles nach einem vorgesehenen Muster, er lebt in einem spießigen Reihenhaus mit Vorgarten, deine vollgestopfte, buntgestrichene Wohnung dagegen gleicht der Villa Kunterbunt, in der du mit den Füßen auf dem Kopfkissen schläfst. Er nimmt immer den vorgesehenen asphaltierten Weg, analysiert und plant alles genau, du folgst dagegen deinem Bauchgefühl und gehst immer querfeldein durch’s Gestrüpp. Wo wollt ihr euch treffen?“

Die vollständige Geschichte -> hier weiterlesen.