Kurzgeschichte, 2018

Wikipedia

Wieso rennen die hier alle herum? Was machen die hier bloss? Es ist kalt, es ist karg, es ist nebelig, hier wächst nichts ausser Flechten, Moos und ein paar robuster Pionierpflanzen und – bäume. Es nervt! Ein Murmeltier schien das gleiche zu denken, es pfiff nervös und aufgeregt mehrere Male. Alle Wanderer drehten sich sofort um. „Hört mal, da sind Murmeltiere!“ riefen sie aus, griffen zu ihren Ferngläsern und glotzten durch sie durch. Markolf bückte sich hinter den Felsvorsprung, von wo aus er die Menschengruppen beobachtete, die durch das Gletschertor pilgerte. MEIN Gletschertor. Meins, das der Murmeltiere, der Alpenschneehühner, der Alpensteinböcke, der Bartgeier, der Birkhühner, der Gämsen, der Schneehasen und des Steinadlers. Wo wollen die alle hin? Und warum?  Markolf zog sich missmutig von dem Felsen zurück, überlegte, was er jetzt machen sollte. Solange diese Horde hier herumrannte, würde er ihn sowieso nicht finden, aussichtslos! Wie er die Menschen hasste! Vor allem die, die hier hochkamen. Leicht gebückt, um nicht gesehen zu werden, trollte sich in die entgegengesetzte Richtung der Menschenströme. Streng genommen waren es nur knapp ein Duzend Wanderer, die sich im Gletschertor verteilten, aber ihm kam es vor wie eine riesige Menge. In jedem Fall waren es definitiv genug, um sein Projekt zu stören. Er ging zu seiner Hütte zurück, der einer verfallenen Gartenlaube ähnlicher sah als einem Forscherstützpunkt.

Ich forsche, tue etwas Sinnvolles hier oben, die anderen rennen nur rum und stören die Natur, dachte Markolf verärgert. Er stiess die Tür seines Holzhüttchen auf, die quietschend fast aus den Angeln zu fallen drohte. Ein paar neue Schrauben brauchte das Ding, brummelte er vor sich hin, aber das stellte er seit vielen Wochen fest, und sie würde wohl erst richtig herausbrechen müssen, ehe er sich darum kümmerte. Er holte einen kleinen Gaskocher, eine angelaufene Kaffeekanne und eine verbeulte Dose und setzte sich damit vor seine Hütte. Heute würde Markolf an den Hängen des Gletschertors und Umgebung nichts mehr ausrichten. Er würde ihn nicht finden bei dem Trubel. Seine Kollegen behaupteten, man würde ihn hier sowieso nicht finden können, es gäbe ihn nur am Bosco Del Bosso, aber Markolf war sicher, er lebte auch hier, auf der Schweizer Seite der Dolomiten. Und heute wäre das perfekte Wetter gewesen: es war lange trocken gewesen, hatte nun geregnet und die Atmosphäre war geschwängert von Wassertröpfchen. Das waren die Bedingungen, wo er herauskam. Aber irgendwie kamen dann auch die Menschen. Warum? Dieser feuchten Luft musste doch für diese Stadtmenschen unangenehm sein, unmöglich konnten sie die Magie der Nachregenstimmung spüren, den ganz besonderen würzigen Geruch wahrnehmen, die Feuchtigkeit auf der Haut spüren. Er traute es ihnen nicht zu. Er füllte das Kaffeepulver wütend in die Kanne, ohne zu merken, dass es einige Löffel zuviel wurden. Er stellte die Kanne auf die Gasflamme und starrte vor sich hin.

Nanu, was kam denn da?  Oder besser „wer“, denn ein Tier war das nicht. Er bekam nie Besuch, wer auch? Der einzige Mensch, mit dem er einmal sehr eng verbunden war, hatte in Wut mit ihm gebrochen. Das Bild von Simone tauchte in ihm auf. Nach vielen, vielen Jahren dachte er plötzlich wieder an sie, während er die Person zu ihm hochkommen sah. Was war damals in sie gefahren? Natürlich konnte er auch damals nachvollziehen, dass sie nicht glücklich gewesen war, als er für sein damaliges Forschungsprojekt für mehrere Jahre in die norwegische Tundra musste. Aber sie hätte ihn ja besuchen können und er sie, nicht sehr oft, aber ein bis zweimal im Jahr. War das ein Grund gewesen, so dermassen heftig zu reagieren, als habe er sie skandalös verraten? Sie hatte jeglichen Kontakt abgebrochen, auf keinen Brief und keine E-mail geantwortet, ging nicht ans Telefon, wenn er von dem nächstgelegenen Ort, von wo er einmal im Monat Proviant bezog, von einem öffentlichen Fernsprecher versuchte, sie anzurufen. Mobiltelefone waren damals, vor zwanzig Jahren, noch nicht in jedermanns Tasche und Netzverbindung sowieso quasi inexistent. Auch als er aus der Tundra zurückkam, wieder nach Zürich zurück, konnte er sie nicht erreichen. Er hatte es dann auch nicht mehr wirklich so richtig probiert, zugegeben. Ein merkwürdiges Gefühl von schlechtem Gewissen, dass er Sabine gegenüber eigentlich nie verspürt hatte, beschlich ihn plötzlich, während er den Menschen näherkommen sah. Es war ein junger Mann, schlank, nicht sehr gross, irgendwie kam er Markolf bekannt vor. Nein, nein, doch nicht, den habe ich noch nie gesehen, er muss jemanden ähnlich sehen, den ich kenne, schüttelte Markolf den Gedanken ab. Er kannte allerdings nicht viele junge Menschen. Unfreundlich sah Markolf ihm entgehen. Der junge Mann verlangsamte etwas unsicher seinen Gang und schien einen Moment darüber nachzudenken, ob er lieber wieder umdrehen sollte. Dann aber setzte er den nächsten Schritt fest, als habe er sich einen Ruck gegeben und lief bestimmt und mit direktem Blick auf Markolf zu. Er baute sich zwei Meter vor ihm auf.

„Guten Morgen, Herr Niehoff. Ich bin von der „Outdoor und Nature“ und würde Sie gern zu Ihrer Arbeit hier oben interviewen. Wären Sie bereit, etwas von den Zielen des Projekts und Ihren Fortschritten zu erzählen?“

Ohne den Gruss zu erwidern blaffte Markolf: „Ich kenne diese Zeitung nicht!“

„Wir sind eine ökologisch ausgerichtete Zeitung für Menschen, die sich gern in der Natur bewegen…“, setzte der junge Mann an.

„Ich mag keine Menschen, die sich in der Natur bewegen!  Sie stören hier nur meine Suche! Und die Natur stören sie auch.“

„Es gibt aber doch eine Möglichkeit des Miteinander zwischen Mensch und Natur. Wie wollen Sie Menschen dazu bringen, sich für den Naturschutz einzusetzen, wenn sie die Natur nicht kennenlernen und nichts über sie erfahren? Und Forschungsgelder wie für Ihr Projekt hier gäbe es dann auch nicht, wenn der Schweizer Alpenverein später nicht dann damit werben könnte, dass es ihn auch hier gibt. Diesen kleinen Aurora Salamander.“

„Die Leute sollen aber nicht kommen und ihn scharenweise suchen“, konterte Markolf scharf.

„Darf ich?“, fragte der junge Mann mit beschwichtigendem Tonfall und machte eine Geste, ob er sich neben Markolf setzten dürfte, wartete aber keine Antwort ab und nahm unaufgefordert links neben ihm auf dem Boden Platz.

„Aber ihn wird doch eh keiner finden, oder?“, fragte der junge Mann weiter, „so heimlich und scheu wie er ist. Sie selbst suchen ihn doch auch schon seit mehreren Wochen.“

Das Wasser in der Kanne begann zu brodeln. Markolf nahm sie hektisch vom Gaskocher und drehte das Schräubchen zu. Eigentlich hatte er keine Lust, mit dem jungen Mann zu reden, aber über den Salamandra atra aurorae sprach er natürlich gern. „Wollen Sie auch ‘nen Kaffee?“, brummelte er , stand auf, holte zwei Aluminiumbecher aus der Hütte und schüttete ihm ein.

Der junge Mann bedankte sich, seinen Blick ungläubig auf die fast schwarze Brühe geheftet. „Füllen Sie immer das Pulver so direkt in die Kanne und kochen dann das Wasser auf?“

„Hatte nie eine Mutter, die mir das Kaffeekochen beigebracht hätte!“, grummelte Markolf.

„Auch keine Freundin?“ Der junge Mann sah ihn dabei ungewöhnlich wach an.

„Auch keine Freundin!!! Also keine, die es mir beigebracht hätte, sie trank nur Tee!“

„Ah. Ja. Stimmt…“, murmelte der junge Mann.

„Wie?“

„Also, lassen Sie uns zum Thema kommen,“ fuhr der junge Mann rasch in professionellem Journalistentonfall fort, „seit ein paar Wochen suchen Sie hier ja nach diesem kleinen Alpensalamander, der eine seltene Unterart des viel weitverbreiteteren Salamandra atra atra ist. Aber Biologen sagen, er käme nur im italienischen Bosco del Bosso in den italienischen Dolomiten vor. Einem Teil der Bevölkerung dort war er früher auch unter dem Namen “Güllane Ekkelsturtzo“ bekannt, aber heute kennt ihn selbst dort kaum noch einer. Wieso sollte es ihn Ihrer Meinung nach auch hier geben?“

„Er ist einer der seltensten und am schwierigsten zu findenden Schwanzlurche Europas! Bisher hat man ihn nur dort gefunden, das stimmt. Dass heisst aber nicht, dass es ihn nur da gibt! Auch hier besteht der Untergrund aus Kalkstein auf Dolomit und bildet ein stark verwittertes, spaltenreiches Karstgebiet mit kaum offenem Wasser an der Oberfläche. Wir sind hier auf einer für ihn idealen Höhe von 1500 Metern, es ist regnerisch und kalt. Sein bekanntes Gebiet ist nicht weit weg, er wird sich nach hier ausgebreitet haben! Er findet hier die gleichen Bedingungen.“ Markolf kam in Schwung, wenn er über den kleinen Kerl redete.

„Ja, ich weiss, ich habe mich natürlich etwas schlau gemacht über den Salamander, bevor ich zu Ihnen kam. Aber wie kommt man darauf, sich wochenlang in die Einöde der Dolomiten zurückzuziehen, um ein winzig kleines schwarzes Viech zu suchen, der aussieht wie aus glibbrigen Plastik mit Sahneüberguss? Haben Sie keine Freunde, Familie, die Sie vermissen?“, lenkte der junge Mann ab und nippte vorsichtig an dem Kaffeebecher, um sofort heftig zu röcheln. Markolf grinste spöttisch und nahm demonstrativ einen grossen Schluck aus seiner Tasse, diese Weicheier aus der Stadt, die nicht mal einen anständigen Kaffee in der Wildnis vertragen und hielt erschreckt die Luft an. Mist, der war echt stark geworden! flucht er innerlich, liess sich aber nichts weiter anmerken.

„Ich kannte nur Leute, die auch fanden, dass das „Viech“, wie Sie es nennen, glibbrig aussehe! Solche Menschen vermisse ich nicht.“

„Es muss doch sicher Menschen geben, die Ihnen nahe stehen. Ein Familienmitglied. Eine Frau…“.

„Ich war nie ein Familienmensch und eine Freundin habe ich nicht. Warum auch, das behindert einen nur in der beruflichen Karriere!“ Markolf trank ein weiteres Mal von dem Kaffee und hielt unbemerkt erneut die Luft an, um nicht zu husten. Was will dieser Mann von mir? Warum interessiert ihn das alles? An wen erinnert er mich bloss?

„Wollten Sie denn nie Kinder?“, hakte der junge Mann weiter nach und stellte vorsichtig den Becher ab, offensichtlich fest entschlossen, keinen weiteren Schluck daraus zu nehmen.

„Nein!“, raunzte Malkolf.

„Und wenn Sie welche gehabt hätten? Wären Sie dann dennoch in die Einöde gegangen?“ bohrte der junge Mann weiter.

„Ich hätte nie welche gehabt! Wir leben in einem Zeitalter, schon seit einigen Jahrzehnten, in dem man sowas verhindern kann.“

„Und wenn Sie mit einer Frau zusammen gewesen wären, die unbedingt welche hätte haben möchte?“

„Hätte ich trotzdem keine bekommen!“. Markolf behagte die Fragerei gar nicht. Wieso antworte ich dem Bengel überhaupt auf seine komischen Fragen? Was hat das alles mit dem alba aurorae zu tun?  Dennoch redete Markolf weiter, fast wie von selbst: „Ja, ich weiss, Frauen sind da komisch, wenn sie in ein bestimmtes Alter kommen, hakt etwas bei ihnen aus. Wie besessen sind sie dann von dem manischen Wunsch, ein Kind zu wollen.“ Markolf wurde von einem seltsamen Gefühl ergriffen, wieder kamen Gedanken an Simone hoch. Er ereiferte sich weiter: „Dann sind sie nicht mehr zugänglich für rationale Gründe, die Evolution mit ihren raffinierten Tricks greift dann voll zu, bemächtigt sich komplett ihres Verstandes und führt sie dahin, wo sie sie haben will: in der Reproduktion. Jede Art strebt einzig und allein zur Reproduktion und dem Erhalt der eigenen Art und selbst der Mensch bleibt dann ein Tier!“ Markolf sah Simone vor sich. Immer war sie eine rationale Frau gewesen, hatte sich für seine Arbeit interessiert, Verständnis für seine Lebensweise gehabt, damit er seiner Leidenschaft für die Naturwissenschaften nachgehen konnte. Aber irgendwann war etwas gekippt in ihrer Beziehung, plötzlich sah sie überall Babys, überall Schwangere, war bedrückt, verhielt sich auch anders beim Sex. War nicht mehr so locker und frei, sondern irgendwie – gedanklich nicht bei der Sache. Es wurde ein Akt, kein lustvolles Übereinanderherfallen. Sie wurde unleidlich, war aggressiv, wollte Verbindlichkeiten, die sie vorher nie eingefordert hatte.

Dann wurde Markolf wieder des jungen Mannes gewahr. Er sah ihm in die Augen. An wen erinnert ihn der junge Mann bloss? „Aber auch Frauen können das Tier in sich besiegen, wieder zu ihrem Rationalismus zurückkehren! Meine Freundin damals wurde dann auch irgendwann wieder normal“, fuhr er vehement fort. Simone veränderte sich dann erneut ganz plötzlich, quasi von einem Moment auf den anderen, wurde wieder friedlich. Mehr als das, sie wirkte fast beseelt. Lächelte viel, lachte oft unvermittelt auf, war wieder präsent und ganz bei ihm beim Sex, wirkte manchmal sogar etwas – ja, fast schelmisch. Sie war so reizend gewesen! Ihn überlief ein unbeschreibliches Kribbeln. Wie charmant war sie in der Zeit gewesen, so entzückend! Er hatte sie so geliebt! Und dann, als er ihr freudestrahlend berichtet, dass er endlich eine Finanzierung gefunden hatte, um sein Projekt über die grossen Salamander in der norwegischen Tundra zu realisieren, da kippte alles wieder völlig. Sie schien fast in Ohnmacht zu fallen, flippte dann aber komplett aus, wurde fast hysterisch. Als er insistierte, das Projekt natürlich durchzuführen, brach sie jeden Kontakt ab, kam nicht mal ins Institut, um ihm viel Erfolg zu wünschen, rief nicht an, um ihm eine gute Reise zu wünschen. Nichts. Nie wieder hatte er was von ihr gehört. Er litt noch heute, das wurde ihm klar. Er hatte es nie überwunden. Aber seine Arbeit war ihm immer wichtiger gewesen.

Der junge Mann unterbrach ihn in seinem gedanklichen Abdriften.

„Eine Frau wird in so einem Zustand erst dann wieder ‚normal‘, wie Sie es nennen, wenn sie dann spürt, dass sich was in ihr reproduziert!“ Er sah Markolf fast angriffslustig an. An wen erinnert der junge Mann ihn bloss?  Diese Augen, dieser durchdringende Blick, dieser Mund? „Die Frau entscheidet über die Wirksamkeit der Verhütung, auch noch in unserem Jahrhundert, haben Sie das vergessen?“, fuhr der junge Mann fort, er wirkte immer angriffslustiger. Woher kannte Markolf diese Art von verbalem Angriff? „Glauben Sie wirklich, die Ratio kann gegen den jahrmillionalten Instinkt an? Auch ein Mann sollte sich dagegen nicht auflehnen und eine Frau diesbezüglich im Stich lassen.“ Jetzt wusste Markolf es! Er wurde blass.

„Wie alt sind Sie?“, herrschte Markolf den jungen Mann unvermittelt an.

„20 Jahre, ich bin geboren, da waren Sie gerade seit zwei Monaten in der norwegischen Tundra, auf der Suche nach Salamandern!“  Der Blick des jungen Mannes wurde verurteilend, kalt, und doch schien es, dass sein Mund zitterte.

Markolf wurde übel. Der Nebel war dichter geworden, hatte sich über die frische, aufklärende Atmosphäre nach dem Regen gelegt.  Er griff mechanisch zur Kaffeekanne. Er zitterte. Warf sie um. Er starrte auf die schwarze, krümelige Brühe, die sich langsam ihren Weg durch das felsige Gestein suchte.

Quellen:

   http://www.salamanderseiten.de/naturfotos/salamandra_atra/salamandra_atra_aurorae.htm

https://en.wikipedia.org/wiki/Salamandra_atra_aurorae