Das Gefängnis in mir

Gemälde: Josef Henselmann (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

„Das Tor fällt hinter ihr ins Schloss. Wie vor ein paar Jahren. Nur stand sie da auf der anderen Seite. Wie fühlt man sich, wenn man rauskommt? Frei? Erleichtert? Voller Hoffnung und guter Vorsätze? Fühlt man überhaupt was? Oder nur Leere? Was fängt man an mit der wiedergewonnenen Freiheit? Viele Ideen, keinen Mut.  Keine Vorstellung, wo man anfangen soll… womit als erstes, und wie soll man es anstellen…?“

„Peng!“ Die Tür fällt in mit lautem Rumpsen zu. Marlene zuckt in sich zusammen, schreit fast auf vor Schreck.

„Verdammt noch mal, schlag‘ die Tür nicht dauernd so zu!!“, keift Marlene in Richtung Zimmer ihres voll in der Pubertät stehenden Sohnes. „Irgendwann fällt sie noch mal aus den Angeln, dann ha‘m wir den Salat“ murmelt sie noch hinterher. Da können die Türen noch so robust sein. Genervt seufzend wendet sie sich wieder ihrem Laptop zu. Wo war sie stehen geblieben? Ach ja, ihre Protagonistin wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen. Marlene hat sich lange konzentrieren müssen, um sich in das Gefühl eines entlassenen Sträflings hineinzuversetzen. Jetzt ist sie wieder raus. Sie schließt die Augen, stützt ihren Kopf in die Hände, legt die Fingerspitzen an die Schläfen.

„Mamaaaa!“ brüllt es durch den Flur.

„Himmelherrgottnochmal! Was ist denn??“ Vorbei. Aus. Ihre Sträflingsprotagonistin ist im Nebel verschwunden.

„Mamaaaa, ich hau jetzt ab. Haste mal zwei Euro?“

„Wofür das denn nun schon wieder?“

„Ouu, Mama, für die Straßenbahn!“

„Wieso nimmst du nicht das Fahrrad?“ Marlene sieht durchs Fenster, durch das der schönste blaue Himmel leuchtet, das ideale Fahrradwetter.

„Mama!!!“ entfährt es Tim entsetzt. „Weißt du, wie weit das ist??“

„Ja, elf Kilometer. Lächerlich für einen durchtrainierten Jungen wie dich!“

„Ja, aber weißt du, was ich alles schleppen muss??!!“

„Was denn? In deinem Zimmer liegen Gewichte, die bekomme ich nicht mal mit zwei Händen von einer Seite zur anderen getragen, die stemmst du mit einem Arm mehrmals in die Höhe!“

„Das ist doch was komplett anderes! Damit trainiert man ganz andere Muskeln.“

„Was nutzt das ganze Muskeltraining, wenn sie dir dann im Alltag nix bringen?“

„Um Mädchen zu beeindrucken, was sonst“, seufzt Tim und sieht seine Mutter mit diesem Blick an, der meint: „Mütter haben einfach keine Ahnung von nichts.“

„Welches Mädel will denn einen Typen, der völlig alltagsuntaugliche Muskeln hat?“ fragt Marlene schnippisch.

„Alle. Die Bizepse müssen Umfang haben und Jungs in jedem Fall ein Sixpack. Ob er damit im Alltag was anfangen kann, ist komplett unwichtig. Es geht nur um’s Aussehen.“ Marlene gibt die Diskussion auf, das tut sie meist.

„Du nimmst das Fahrrad!“ insistiert sie und gibt ihrem Tonfall einen betont gelassenen Anstrich.

„Ach Mamaaa…“, quengelt ihr Sohn, der bereits einen Kopf größer als seine Mutter ist, mit tiefer Stimme los. Den Stimmbruch hat er auch schon erfolgreich hinter sich gebracht. „Ich habe keine zwei Euro. In meinem Portemonnaie herrscht gähnende Leere“.  Wie jetzt in ihrem Kopf, wie in dem ihrer gerade frisch entlassenen Protagonistin. Sie klappt den Laptop energisch zu, es hat keinen Sinn. Während ihr Sohn fluchtend seine Sachen in den Rucksack packt, da sein mega-sportliches Fahrrad komplett alltagsuntauglich keinen Gepäckträger zum Anbringen von Satteltaschen hat, steht Marlene vom Küchentisch auf, nimmt die Leine vom Haken, fällt über den in Sekundenschnelle von dem Sofa im Wohnzimmer aufgesprungenen Hund, der jetzt vor der Tür herumspringt wie ein wildgewordener Gummiball, macht die Tür auf, durch die als erster sofort der Hund stürmt, dann sich ihr sichtlich empörter Sohn quetscht, der ihr „Tschüß“ nur mit einem tief grummelnden Tonfall erwidert. Marlene schluckt. Fuck, diese Scheißpubertät. Muss sich, nur weil der Körper sich komplett entwickelt, auch der gesamte Geist in Baustellenphase gehen? Sie schlurft die Treppe herunter, nimmt den überlebhaften Terrier an die Leine und geht entlang des ehemaligen Truppenübungsplatzes. Sie meidet den Wald, sucht stattdessen die Sonne. Ihr fröstelt. Sie läuft ein Stück an dem alten Militärzaun vorbei, der sich noch weit bis hoch auf die schroffen Felsen zieht und dessen unheimliches Aussehen sie zu der Idee mit der Frau, die aus dem Gefängnis entlassen wird und ein neues Leben beginnen muss, inspiriert hat. Zu Knäulen gewundener Stacheldraht ist oben auf den Zaun befestigt, damit auch wirklich keiner hinüberklettern kann. „Wie verwickelte Nabelschnüre“, denkt sie. „Hirnrissiger Gedanke“. Auf der anderen Seite erstrecken sich Felder, die noch kleine Maispflänzchen, die die Erde so auslaugen, dass sie nach der Ernte viel Dünger und Stickstoffanreicherung durch Senfpflanzen benötigen, stehen wie kleine Soldaten eines neben dem anderen. „Womit wird man mich düngen müssen, wenn mein Sohn endlich flügge und aus dem Haus ist, um mich wieder aufzupäppeln?“ fragt Marlene sich und starrt ihrem jeden Strauch markierenden Terrier hinterher.  Die sich im Wind hin- und herwiegen Ähren des Weizenfeldes geben die Impression von Wellenkräuseln auf dem Meer. Sie bricht eine der Ähren ab, spielt damit herum. Sie schaut auf den Halm in ihrer blassen Hand: Damit verbindet man fruchtbare Erde. Fruchtbar wie die Gebärmutter. Ihre Gebärmutter. Die wollte aber erst gar nicht fruchtbar sein, sie hatten damals ziemlich nachhelfen müssen, mit Hormonbehandlung und allem Pipapo, bis endlich der Samen sich ans Ei und das befruchtete Ei sich an die Gebärmutterschleimhaut heftete und ihr Söhnchen als kleiner Zellhaufen sich am Mutterkuchen gütlich tat. Ab da ging es los mit dem Parasitismus. „Ihr wolltet mich immer, Mama, jetzt musst du da durch, ich habe nie danach gefragt, geboren zu werden!“ ist ein beliebter Vorwurf von Tim, wenn sie ihn auffordert, nicht so egoistisch zu sein und auch mal was für die Familie zu tun. Ein gottverdammtes Scheißargument, was soll man darauf antworten, zum Teufel noch mal? Marlene fühlt sich so müde, so desillusioniert, so gefangen in dieser Situation, die sie sich tatsächlich wissentlich und gewollt geschaffen hatte. Sie hatte Tim tatsächlich nicht gefragt, ob er auf die Welt kommen wolle. Wie auch? Man wird nicht gefragt, ob man geboren werden möchte, man wird nicht gefragt, ob man sterben möchte und nach den Buddhisten und Hinduisten wird man auch nicht gefragt, ob man wiedergeboren werden möchte. Unendlich immer wieder geboren werden. „Grausige Vorstellung! Hoffentlich stimmt das mit der Reinkarnation nicht!“ Marlene gruselt es bei der Idee. Fast so furchtbar wie die, unendlich zu leben. Wieso träumten die Menschen seit Jahrtausenden von der Unendlichkeit? Ein Albtraum. Marlene ist immer wieder dankbar für alles, was dann auch wieder zu Ende geht. Und sie wird irgendwann auch dankbar sein, sterben zu dürfen, davon ist sie überzeugt.

Am Ende der unendlich weit erscheinenden Felder beginnen wieder die Häuserreihen, Marlene läuft noch verloren durch die Straßen des Wohngebietes. Einfamilienhäuser reihen sich wie Weizenkörner auf der Ähre aneinander, aus einem Haus ertönt der Klang einer Gitarre, was Marlene noch mehr in die Melancholie stößt. Dann Kindergeschrei aus einem Garten, das reißt sie wieder raus aus der Melancholie. Ihre Gefühlswelt ist Spielball der äußeren Eindrücke, mit jedem neuen Sinneseindruck wird ein neues Gefühlsregister gedrückt. Eine junge Frau mit kleinem, attraktiven Babybauch kommt ihr entgegen, es sieht sehr erotisch aus, wie sich das Bäuchlein unter ihrem engen Kleid und vor der schlanken Taille geheftet wölbt. „Geheftet, ein Haufen Zellen festgeheftet an dem Mutterkuchen, irgendwann liegt er schwer auf dem Muttermund, durch den sich dann dieser kleine Parasit nach draußen drückt“, schießt es Marlene durch den Kopf und sieht der jungen Frau in das hübsche madonnenhafte Gesicht. Im zweiten Drittel der Schwangerschaft ist eine Frau am schönsten. Unter der Geburt werden sich die mädchenhaften Lippen dann qualvoll verziehen, schreien, stöhnen, sich zu einem spitzen Pusten verformen, um die Wehen zu veratmen. Und danach ist dann alles anders. Wenn das kleine Wesen sein Gefängnis des Mutterschoßes verlassen hat, dann wird es zum Gefängnis der Mutter. Aus dem sie nie wieder raus kommt! Man bleibt den Rest seines Lebens Mutter! Unwiderruflich! Unwiderruflich gefangen in der Mutterschaft, in den Mutterängsten und -sorgen, in der hauchdünnen Verletzlichkeit einer Mutter, alles geht mal zu Ende im Laufe des Lebens, nur das nicht! Marlene sackt immer tiefer in sich zusammen, wie unter einem unsichtbaren Gewicht.

„Verdammt, ich habe gar keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man aus dem Gefängnis entlassen wird! Eine blöde Geschichte, die ich da schreiben will! Ich werde es nie schaffen, mich in eine Ex-Sträflingsfrau hineinzuversetzen!“ denkt Marlene plötzlich wütend.

Als Marlene wieder zu Hause ist, fährt sie den Laptop hoch und schiebt die angefangene Geschichte in den „ad acta“ Ordner. Da liegen schon so einige Manuskriptgerippe und verwesen.

Verwesen in der Unendlichkeit des Lebens. Klingt gut, aber sagt eigentlich gar nichts, aber auch gar nichts aus. Ihr Handy macht laut „Bing“.

Es ist Tim: „Hab‘nen Platten! Holst du mich!? Please!!!“

(2017)