Szene 3 aus „Alte Liebe rostet nicht“

Manfred, der Hund muss raus!“

Jutta steckt ihren Kopf kurz durch Manfreds Arbeitszimmertür.

„Mhhh-mmh-mh,“ brummelt Manfred in mehreren Tonlagen, was bedeuten soll: „Ich habe verstanden und ja, mache ich.“ Aber Jutta lässt sich nicht täuschen. Nach 29 Jahren Ehe weiß sie, dass sie das Bewusstsein ihres Mannes nicht erreicht hat. Der Satz ist nur bis in den dunklen Vorhof seines präfrontalen Neo-Cortex gedrungen und die „mmhhh-Antwort“  automatisch im limbischen System seines Gehirns generiert worden.

„Manfred….! Hallo, hast du mich gehört?“

Manfred schreckt hoch. „Hä, was?“ Offensichtlich bemerkt er jetzt endlich Jutta auf der Türschwelle. 

„Der Huuu-uund! Hugo muss raus!“

„Ah, ok, ja, mach‘ ich gleich.“

„Nein, nicht gleich, jetzt. Sonst pinkelt er wieder auf den Badezimmerteppich.“

„Ach, der hält noch durch. Du warst doch schon mit ihm draußen!“

„Das war heute Vormittag, das ist sechs Stunden her! „

„Ich halte es auch mal sechs Stunden aus ohne Pinkeln…“.

„Keine Diskussionen, du bist kein Hund, bitte geh‘ mit ihm! Wir hatten ausgemacht, ich gehe morgens lang, du am Nachmittag wenigstens eine kleine Runde! Und …“

„Jaja, ich gehe ja mit ihm …“

„Ja, aber auch wirklich!“

Jutta zieht ihren Kopf aus der Tür zurück und verschwindet in ihrem Arbeitszimmer, sie hat bis morgen noch einen ganzen Stapel Klassenarbeiten zu korrigieren. Sie seufzt, sie hasst diese Arbeit. Sie ist eigentlich gern Lehrerin, wären da nicht die Klassenarbeiten und die Eltern der Schüler. Und die endlosen Konferenzen. Wieso durfte man als Lehrer nicht einfach bloß unterrichten? Sich um die Schüler kümmern? Für sie da sein? Dann wäre es ein Traumjob. Sie nippt an ihrem inzwischen kalt gewordenen Tee, rückt sich den Stuhl zurecht, nimmt den Rot- und den Grünstift…

****

Sie schreckt hoch. Der Hund kratzt an ihrem Bein. Huch, schon eine Dreiviertelstunde vergangen! Was macht Manfred? Genervt steht sie auf, hastet in sein Arbeitszimmer.

„Verdammt, der Hund!!! Was du machst, ist Tierquälerei!“

„Ja ich gehe ja schon fast mit ihm, ich musste nur diese Passage im Antrag ..:“

„Nichts ist wichtiger als die quälende Blase deines Hundes! Auch nicht dein blöder Antrag.“

„Ach, Hugo muss noch gar nicht so dringend! Was du immer hast! Und mit meiner Arbeit verdienen wir 70% unseres Monatseinkommens und…“

„Du wolltest den Hund genauso wie ich! Und er muss raus, ich sehe es ihm an. Und zwar dringend.“

„Jaaaaaa!!!! Ich gehe gleich!!  Außerdem stimmt es nicht, DU wolltest den Hund unbedingt, weil dir die Kinder fehlen. Ich habe nur zugestimmt, weil ich dachte, es tut dir gut“, kontert Manfred genervt.

Jutta beißt sich auf die Lippe und geht wieder raus, Hugo rennt dauernd hinter ihr her und guckt sie erwartungsvoll an. Soll sie aus erzieherischen Gründen riskieren, dass der arme Köter den Badeteppich vollpinkelt und diesen dann, Hundeurin triefend, demonstrativ in Manfreds Arbeitszimmer legen? Es wäre der Auslöser für einen furchtbaren Streit, das ist ihr klar. Hugo fiept. Jutta hebt ihn hoch, vorsichtig, um seine pralle Blase nicht zu sehr zu drücken, geht zurück in Manfreds Zimmer und setzt ihn wortlos auf den Schoß ihres Mannes. Der reagiert erneut genervt. „Mann, Jutta, das geht gerade nicht, ich …“

„Der Hund muss raus!! Jetzt! Sofort! Wir hatten eine Abmachung. Ich morgens, du am Nachmittag!“

„Ja, aber es muss auch Ausnahmen geben. Kannst du nicht eben gehen, ich mache dann heute Abend ‘ne Runde mit ihm.“

„Heute Abend hast du Tennistraining.“

„Dann gehe ich morgen früh mit ihm, ausnahmsweise, und morgen Nachmittag. Mensch Jutta, das ist wichtig hier, ich habe eine Deadline!“

„Ich muss meine Klassenarbeiten auch morgen zurückgeben!“

„Ach, auf den einen Tag kommt es bei den Arbeiten nicht an“

„Auch dafür gibt es feste Rückgabefristen, und wenn die Schüler sehen, dass nicht mal die Lehrerin ihre Vorgaben einhält, wie will man dann von den Schülern erwarten, dass sie es …“

„Jaaaaaa – aber einmal geht davon die Welt nicht unter, wenn…“

„Und an der Uni geht die Welt auch nicht unter, wenn du einmal die Deadline nicht einhältst, das tust du ja sonst auch nie …“.

„Das ist ein DFG[1]-Antrag und die Deadline ist imperativ! Nun geh doch du einmal mit dem Hund am Nachmittag!“

Jutta schluckt vor Wut und Verzweiflung. Immer das gleiche Theater seit sie den Hund haben. Aber früher hatten sie die gleichen Grundsatzdiskussionen bezüglich der Kinder, fällt ihr ein, eigentlich hat sich nichts geändert: Nachdem Veronika und Alexander weg waren, haben sie sich mit dem Hund nur wieder einen vergleichbaren Zankapfel ins Haus geholt. Es ist so ermüdend, sie fühlt sich abgeschlagen und kraftlos. Sie weiß genau, dass er morgens nicht rechtzeitig aus dem Bett kommen wird und Hugo dann eben morgen, wenn sie in der Schule ist, aus Hundeverzweiflung auf den Badeteppich pinkeln wird. Hugo ist längst vom Schoß seines Herrchens gesprungen und sieht wieder sein Frauchen an. Er hat nach wenigen Monaten, deutlich schneller als Jutta nach 29 Jahren Ehe, begriffen, dass beim Herrchen nichts zu machen ist. Sie verlässt wortlos den Raum, geht zur Haustür, zieht sich die Weste an, während der Hund aufgeregt um sie herum springt. Sie nimmt die Leine, macht die Tür einen Spalt auf, Hugo schiebt bereits freudig erregt seine winzige Schnauze durch den Türspalt, durch den Jutta lugt, ob der Flur leer ist. Erst dann macht sie die Tür ganz auf, Hugo saust wie ein geölter Blitz in den Flur, rutscht auf dem glatten Steinboden einen Meter geradeaus, fängt sich knapp vor der gegenüberliegenden Nachbartür, macht eine halbe Drehung und bleibt vor der Treppe stehen. Er darf nicht alleine runterrennen, das weiß er und wartet ungeduldig, dass Frauchen ihn auf den Arm nimmt und hinunterträgt. Kleine Hunde bekommen vom Treppensteigen sonst schnell einen Bandscheibenvorfall. Auch darauf achtet Manfred oft nicht, weil er das Müllrausbringen und den Hundegang verbinden will, so dass das Tier doch selbst die Treppen laufen muss, weil Herrchen mit Papierkörben bepackt ist.

Jutta grübelt über ihre Ehe nach, über diese ganzen Abmachungen und Regeln, die sie gemeinsam aufstellen – zumindest erscheint es ihr, als ob sie es gemeinsam tun, aber vielleicht liegt schon da der Irrtum. Vielleicht tut Manfred nur so, als sähe er alles genau wie sie -, und  dann hält er sich doch nicht an die Abmachungen. Seit 29 Jahren. Sie ist so müde. Wäre es nicht leichter, alleingerade, jetzt, wo auch das letzte Kind aus dem Haus ist? Scheidung nach drei Jahrzehnten Ehe, das hört man so oft. Außenstehende wundern sich dann, aber sie kann es nachvollziehen. Wenn die größte Herausforderung vorbei ist, man die Kinder auf ihren Weg gebracht und aus dem Nest gestoßen hat, dann setzt so eine Erschöpfung ein. Es ist, als würde die ganze Kraft, die man jahrzehntelang in Kinder und Ehe gesteckt hat, aus einem entweichen wie Luft aus einem Ballon, in den ein kleines Loch gebohrt wurd . Pfftttttt……….. immer mehr und schneller, das Loch weitet sich und irgendwann platzt es auf und alle restliche Luft entweicht auf einmal.

„Bin ich kurz vor diesem Punkt?“, fragt Jutta sich, die Hand fest um die zusammengelegte Leine gepresst, während sie am Kanal entlangläuft und der Hund seine Freiheit, die vielen Gerüche und die Sozialkontakte mit anderen Hunden genießt und wild herumtollt.

Es ist keine Frage von verschwundener Liebe. Sie liebt Manfred. Und er sie auch, das weiß sie. Natürlich schon lange nicht mehr leidenschaftlich und überwältigend, klar, aber eben diese stille Verbundenheit, mit der man mit dem anderen an irgendeiner Stelle  wie siamesische Zwillinge zusammengewachsen zu sein scheint. Der französische Chansonier Daniel Guichard hat das mal schön besungen: „La tendresse“. Wenn aus leidenschaftlicher Liebe nach vielen, vielen Jahren etwas wird, für das es im Deutschen nicht so ein passenden Wort wie im Französischen gibt. „La tenerezza“ sagen die Italiener, „la ternura“ die Spanier. Es ist diese weiche, unaufdringliche, aber tief verwurzelte Zuneigung, wie in warmer Watte eingepackt

Aber auch diese zärtliche Liebe hindert Jutta nicht daran, dass sie  verzweifelt ist, sich am Ende ihrer Kräfte und ihres Lateins fühlt. Dass sie am liebsten die Leine kappen würde wie nun bei ihrem Hund, als sie am Anfang der Kanalpromenade ankommen, und einfach nur noch für sich selbst verantwortlich sein möchte. Es scheint ihr oft so viel einfacher, allein zu sein als mit jemanden zusammen. Vor allem mit Manfred. Liebe reicht nicht für eine funktionierende Ehe. Vielleicht ist sie sogar eins der unwichtigsten Bindeglieder.

„Hey, Jutta! Ich hätte dich fast übersehen, du läufst durch die Gegend, als wolltest du dich unsichtbar machen. Ich habe nur Hugo gesehen und wusste, einer von euch muss in der Nähe sein. Aber sag mal, sollte am Nachmittag nicht eigentlich Manfred gehen? Hattet ihr das nicht ausgemacht?“

„Hallo Rita!“, begrüßt Jutta ihre Hundefreundin. Seit ihrem ersten Spaziergang mit Hugo, damals frisch aus dem Tierheim abgeholt, pflegt sie täglich Umgang mit ihr. Das heißt, bis vor kurzem.

„Schön, dich mal wiederzusehen!“ Jutta lächelt erleichtert. Es tut ihr wirklich gut, jemanden wie Rita zu treffen. “Wir haben uns schon so lange nicht mehr getroffen.“

„Ach ja“, seufzt Rita, „seit Perla tot ist, macht das Spaziergehen einfach keinen Sinn mehr.“

„Ja, das verstehe ich.“ Jutta zögert einen Moment. „Denkst du dran, dir wieder einen neuen Hund anzuschaffen oder bist du noch nicht über die Trauer hinweg?“

„Ich weiß es nicht. Ich möchte schon gern wieder einen Hund, vermisse die Präsens eines Vierbeiners schon enorm, aber noch schaffe ich es nicht. Da stehen noch immer Perlas Sachen: Ihr Napf, ihr Körbchen, ihre Leine hängt noch am Haken an der Tür, sogar eine angebrochene Packung Trockenfutter habe ich noch. A propos, möchtet ihr die haben? Die wird vom offen Herumstehen auch nicht besser…“.

„Ja, gern. Oder… warte mal…“, überlegt Jutta laut und bekommt nun Ritas ganze Aufmerksamkeit.

*****

Manfred hastet durch die Wohnung, in der einen Hand seine halbleere Sporttasche, in der anderen ein durchgeschwitztes T-Shirt von letzter Woche, das er aus der Tasche gezogen hat und nun im Vorbeilaufen auf einen Sessel pfeffert. Er zieht seine Kommodenschublade auf und durchwühlt seine Klamotten. Vor einem Jahrzehnt hat Jutta eingeführt, dass er sich um das Wegräumen seiner Wäsche allein kümmern muss, seitdem findet er nichts mehr wieder. Er flucht, zieht dann irgendetwas heraus, was nach T-Shirt aussieht, obwohl es offenbar nicht das ist, was er sucht und stopft es in die Sporttasche. 

„Jutta, weißt du, wo mein Tennisschläger ist?“

„Nein, aber die leere Hülle habe ich gestern im Kofferraum gefunden,“ antwortet Jutta matt und widerwillig. Manfred bleibt verdutzt stehen, bemerkt aber ihre Stimmung nicht, sondern denkt nur an den verschwundenen Schläger. Er ist ein Chaot, aber er tut seinen Schläger nach dem Spielen immer in die Hülle zurück! Immer. Einer der wenigen Ordnungsgewohnheiten, die er beherrscht. So, wie er immer alle Einnahmen gleich in seine private Buchhaltungssoftware einträgt. Mit den Ausgabeneintragungen ist er nicht ganz so penibel.

„Oh Mann, Mist, den habe ich ja zum Bespannen ins Sportgeschäft gebracht! Hoffentlich kann Olaf mir einen leihen.“

„Ruf ihn besser vorher an,“ entfährt es Jutta und im selben Moment ärgert sie sich. Sie wollte heute gar nicht mehr mit ihm reden, aber ihre Antworten sind so zu Automatismen geworden, dass sie sich nicht beherrschen kann.

„Stimmt, ist sicher besser“, entgegnet er und sucht nun das schnurlose Telefon, noch immer die offene Sporttasche in der Hand.

Manfred schafft es mit nur zehn Minuten Verspätung und Olafs telefonischem Versprechen, ihm einen Schläger mitzubringen, aus dem Haus zu stürmen. Für Manfred ist das wöchentliche Training eine Herausforderung. Nicht aus sportlicher Sicht, sondern aus organisatorischer. Aber es ist ihm ungemein wichtig und so schafft er es meist, wenn auch grundsätzlich verspätet, am Mittwoch Abend mit seinem Sportsfreund Olaf auf dem Platz zu stehen und danach mit ihm noch ein alkoholfreies Bier zu trinken. Manfred lebt nicht nur wegen Juttas Achtsamkeit bezüglich Ernährung gesund, sondern aus innerer Überzeugung. „Da treffen wir beide uns oft in völliger Übereinstimmung“, denkt er oft, wenn sein Arbeitskollege und Freund Erich sich verstohlen über die vegetarischen Essensmarotten seiner Frau beklagt, während er sich heimlich einen Döner aus der Imbissbude an der Ecke hinter der Uni reinzieht und dabei noch schweren Herzens auf Zaziki verzichtet, damit seine Helena ihn nicht aufgrund des Knoblauchgeruchs überführt.

Als Manfred spät abends neben Jutta ins Bett kriecht, leise, um sie nicht zu wecken ist er zufrieden mit sich. Er hat um 19 Uhr den Antrag an die DFG „submitted“, war beim Tennis, hat sich nett und lange mit Olaf unterhalten und ist kurz vor Mitternacht durch die laue Sommerluft und unter einem fantastischen Sternenhimmel nach Hause geradelt. Ein perfekter Tag. Dass Jutta neben ihm hellwach ins Dunkle starrt, bemerkt er nicht.

Er wacht auf, als Jutta ihm mit steinerner Miene die Kaffeetasse auf den Nachttisch stellt, wortlos wieder rausgeht und er kurz darauf die Eingangstür hört. Donnerstag muss sie immer erst zur dritten Stunde in der Schule sein und das passt zu seinem Aufstehrhythmus. Er ist eine Eule und kann bis vier Uhr nachts arbeiten, sie  ist eine Lerche, die um fünf Uhr morgens aufsteht. Er geht ins Bad, erfrischt sich das Gesicht mit kaltem Wasser und zieht sich an. Macht mehrere Liegestütze auf dem Schlafzimmerteppich, wie jeden Morgen. „Puh, Muskelkater von gestern!“, stöhnt er leise.  Er nimmt seine Kaffeetasse, um zu seinem Schreibtisch zu schlurfen und fährt den PC hoch. Er hält um 11h Uhr eine Vorlesung, die er sich noch mal durchliest.

Um zehn radelt er am Kanal entlang zur Uni und weicht dabei mehreren Hunden aus, die sich auf dem Rasen tummeln.

„Ups – verdammt, ich hätte heute Morgen ja mit Hugo gehen sollen!“, fällt ihm da siedend heiß ein. „Naja, wird Jutta doch gemacht haben, er hat sich gar nicht gemeldet. Ich habe ihn eigentlich gar nicht gesehen“, grübelt Manfred. Der Hund begrüßt ihn doch sonst immer morgens. Ein schlechtes Gewissen kriecht in ihm hoch. Er hat sich wieder mal nicht an ihre Abmachung gehalten. Aber er hält sich auch oft nicht an die Abmachungen, die er mit sich selbst trifft, wie sollte er dann die mit anderen einhalten? Das ist eine grundsätzliche Schwäche und das weiß er auch. Aber Jutta macht immer gleich so ein Drama draus, das bringt ihn und sie auch nicht weiter. Außerdem ist der Hund wirklich ihre Idee gewesen. Er hat den kleinen Köter, der aussieht wie eine Mischung aus Meerschweinchen und Fußabtreter zwar gern, aber er braucht kein Tier zuhause. Er hat aus Liebe zu Jutta eingewilligt, weil er gespürt hat, wie wichtig ihr das ist. Jetzt hat er Abmachungen an der Backe, die er oft nicht einhalten kann und der Haussegen hängt schief. So was Blödes! Wenn ich heute nach Hause komme, mache ich sofort eine lange Runde mit Hugo, nimmt er sich vor, und vielleicht kommt Jutta mit und wir machen mal wieder einen schönen Spaziergang zusammen! Ja, darauf freut er sich und tritt beschwingt in die Pedale. Wenn er nicht einen Zahn zulegt, wird auch das akademische Viertel überschritten sein, wenn er in den Hörsaal kommt.

*****

Als Manfred heimkehrt, wird er von keinem Hugo begrüßt. Ist Jutta mit ihm draußen? Er hört aus ihrem Arbeitszimmer, wie eine Teekanne auf ihr Stövchen zurückgestellt wird.

„Jutta ist da, aber der Hund nicht?“, wundert sich Manfred. Er läuft durch die Wohnung. Guckt auf dem Sofa. Auf dem Bett. Im Körbchen in seinem Arbeitszimmer. Lugt durch Juttas Arbeitszimmertür. „Hi, Jutta, alles klar?“, und wirft verstohlen einen Blick auf die Hundedecke unter ihrem Schreibtisch. Jutta antwortet nicht. Auch da kein Hugo. Wann hat er den Hund das letzte Mal gesehen? Heute Morgen eindeutig nicht. Gestern Abend, als er vom Tennis nach Hause kam? Er lässt seine Heimkehr Revue passieren. Nein. Seltsam eigentlich. Vorm Tennis? Oh Gott, das scheint so lange her. Er gräbt in den untersten Schubladen seiner Erinnerungen. Jutta ist gestern Nachmittag mit Hugo gegangen, nachdem sie sich deswegen gestritten haben. Er hat den Antrag zu Ende geschrieben und an die DFG per Mail geschickt. Dann seine Sachen zusammengesammelt … nichts zu machen, er erinnert sich nicht an den Hund. Ein komisches Gefühl beschleicht ihn. Er hat selten Eingebungen, aber manchmal scheint seine Frau ihm etwas zu übermitteln, was er dann doch durch seine emotionale Elefantenhaut empfängt. Er geht zu Juttas Zimmer, reißt jetzt die Tür energisch auf.

„Sag mal, wo ist der Hund?“, entfährt es ihm.

„Abgegeben“, antwortet Jutta tonlos.

„Hä? Was? Was heißt ‘abgegeben‘“?

„Na, zurückgegeben, ins Tierheim.“

„Waaaas?“

„Naja, die waren nicht begeistert, aber sie sagten, das passiere immer wieder, dass sich  Leute  mit dem Tier überfordert fühlen. Es wäre zwar scheiße für den Hund, ins Heim zurückzumüssen, aber besser, als dass er dann an der Überforderung seiner neuen Besitzer leide, die sich nicht richtig um ihn kümmern.“

Manfred fühlt Beklemmung. Er sieht sofort diesen Blick von Hugo vor seinem geistigen Auge, damals, als sie im Tierheim einen Hund gesucht haben. Wie er sie durch das Käfiggitter angesehen hat, die ganze Traurigkeit und Verzweiflung einer kleinen Hundeseele hatin diesem Blick gelegen! Und beide, Jutta und er, hatten sich nur angesehen und wie so oft hatten sie sich ohne Worte sofort verstanden, fühlten die Gedanken des anderen und waren sich sofort einig, so wie das oft in langjährigen Teams der Fall ist.  Sie hatten sofort gewusst: das war er. Ihr Hund, den würden sie mit nach Hause nehmen! Diese Kreuzung aus Meerschweinchen und Fußabtreter.

„Wieso zum Teufel…“, setzt Manfred stotternd an.

„Du wolltest den Hund ja nicht! Für dich ist er ja nur eine Belastung, das hast du gestern ja wieder mal gesagt“. Ihr kommen die Tränen. „Du hast es ja nur ‘mir zuliebe‘ gemacht‘!“Sie äfft seinen Tonfall nach.

Manfred fühlt sich so schrecklich wie man sich nur fühlen kann, wenn man etwas verliert, von dem man merkt, dass es einem viel mehr ans Herz gewachsen ist als einem bewusst war.

Jutta zieht die Nase hoch und fährt schniefend fort: „Ich sitze nachmittags in der Schule auf irgendeiner blöden Konferenz und mache mir Sorgen, ob du das arme Tier rauslässt, dessen Blase zerplatzt und die es dann mit Druckschmerzen und schrecklich schlechtem Gewissen auf dem Teppich entleert. Und ich habe dann auch ein schlechtes Gewissen. Und zwar gleich zweimal. Einmal dem Tier gegenüber UND dir, weil ich wegen meiner ‚leeren Nest-Depression‘ diesen Hund wollte!“

Wie Hugos Blase auf dem Badeteppich, entlädt sich Juttas Frust aus ihren Tränendrüsen. Ihre Worte fangen an, sich zu überschlagen. “Und da habe ich ihn gestern, als ich draußen war mit ihm, gleich ins Heim zurückgebracht! Und ich habe gerade angerufen, es gibt schon einen Interessenten. Er wird bald wieder eine neue Familie haben.“ Sie fährt einen Tick zu hastig fort  und dreht sich abrupt weg. Manfred schweigt. Sieht seine Frau, die ihm jetzt den Rücken zudreht, mit ernstem Blick lange an. Sie ist eine schlechte Lügnerin und eine noch viel miserablere Schauspielerin. Dass ihre Tränen echt sind und sie wirklich todunglücklich, merkt Manfred sofort, aber ansonsten stimmt hier etwas vorn und hinten nicht.

„Jutta?“, fragt er nun sanft und gedehnt, “wo ist Hugo?“

Jetzt fängt Jutta richtig an zu weinen, sie klappt völlig in sich zusammen, Manfred nimmt sie in den Arm, und hält sie einfach nur fest. Jutta weint und weint. Alles weint sie aus, auch ihre Leere, die ihre ausgezogenen Kinder hinterlassen haben und gegen die sie tapfer ankämpft.

Manfred weiß zwar immer noch nicht, wo Hugo ist, aber sicher nicht im Tierheim, soviel ist ihm klar. Er respektiert, dass Jutta sich erst einmal richtig ausheulen muss. Dann fragt er leise: „Wo hast du Hugo untergebracht?“

„Bei Rita“, schluchzt sie. „Ich habe sie gestern am Kanal getroffen. Sie hat eh‘ noch alle Sachen von Perla da stehen, so dass sie Hugo spontan mal nehmen konnte.“

„Dann gehen wir beide heute Abend endlich mal wieder schön zusammen essen, reden und holen danach Hugo bei Rita ab“, sagt Manfred, zieht ein zerknülltes Tempotaschentuch aus der Hosentasche und gibt es ihr. Sie schnaubt und sieht ihn fragend an. Dass damit das Problem des Gassigehens noch nicht gelöst ist, ist ihm zwar auch klar, aber es scheint im vorerst essentiell, ihr beim Überwinden des mütterlichen Syndroms des „leeren Nestes“ zu helfen. „Ich habe dann auch noch eine kleine Überraschung für dich. Für dich und Hugo“, flüstert er dann.

Vor drei Tagen hat er drei Wochen Urlaub in Nord-Norwegen für die Sommerferien gebucht, eine kleine Blockhütte, mit See, Kanu, toller Landschaft für lange Spaziergänge. Beide lieben sie das. Und in der letzten Woche würden dann Veronika und Alexander zu ihnen stoßen! Beide haben dann Semesterferien und Veronika ihre Hausarbeit abgegeben. Es scheint ihm, dass das der richtige Moment ist, ihr davon zu erzählen. Und dann freut er sich auf Hugo und wird bestimmt in Zukunft regelmäßig mit ihm gehen! Zumindest nimmt er sich das fest vor …


[1]                    . DFG = Deutsche Forschungsgesellschaft, die Gelder für wissenschaftliche Projekte vergibt.