Kurzgeschichte von 2018

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Pippi Langstrumpf als Borkenkäfer

Du bist auf dem Holzweg, ich sage es dir! Guck dir dein Leben in den letzten 30 Jahren an, es passt einfach nicht! Du verrennst dich.“

‚Ich sitze bereits drauf, auf dem Holzweg!‘, möchte ich dieser warnenden Stimme in mir antworten, aber für solche Wortspielchen hat sie nicht viel übrig, sie möchte ernst genommen werden, wenn sie mir Ratschläge gibt. Ich spüre die leicht feuchten Planken des hölzernen Bootstegs unter meinen Händen, während ich meine Füße über dem Wasser baumeln lasse und nachdenklich über den See blicke, der sich diesig und verhangen vor mir erstreckt und in dem eine Vielzahl kleiner Inseln gibt. Meine hier ist einer der Größten. Nur verschwommen erkennt man das gegenüberliegende Ufer des Festlandes. Wenn ich nicht wüsste, auf der anderen Seite ein heruntergekommenes Landschulheim mit halb verfallenem Türmchen steht, könnte man es genauso gut für ein kleines Schloss halten. Im Nebel geht die Fantasie mit einem durch und alles erscheint mächtiger, größer, imposanter. Auch bedrohlicher.

„Sei mal ehrlich, ihr passt zusammen wie Sherlock Holmes und Pippi Langstrumpf“, fährt diese Stimme in mir fort, „er hat ein geordnetes Leben, das 40 Jahre einer konsequenten Bahn gefolgt ist, wie eine Eisenbahn auf Schienen, gut durchdacht und logisch. Du dagegen bist eine Chaotin, sehr kreativ zwar, aber völlig ziellos. Dein Lebensweg verläuft ungefähr so geradlinig wie eine holprige Serpentinenstraße in den Hochalpen. Bei ihm läuft alles nach einem vorgesehenen Muster, er lebt in einem spießigen Reihenhaus mit Vorgarten, deine vollgestopfte, buntgestrichene Wohnung dagegen gleicht der Villa Kunterbunt, in der du mit den Füßen auf dem Kopfkissen schläfst. Er nimmt immer den vorgesehenen asphaltierten Weg, analysiert und plant alles genau, du folgst dagegen deinem Bauchgefühl und gehst immer querfeldein durch’s Gestrüpp. Wo wollt ihr euch treffen?“

Ich höre auf, mit den Füßen zu schaukeln. Ich will dieser Stimme eigentlich nicht zuhören, aber sie gibt nicht auf: „Das für dich typische Chaos gilt für alle Lebensbereiche. Du hast schon so viele Berufe ausgeübt, dass der Berater beim Arbeitsamt jedes Mal verzweifelt, wenn er dich fragt, in welchem Bereich du dieses Mal Arbeit suchst. Das Computersystem macht das nicht mit, deine vielen Berufsfelder. Er kann nur Häkchen bei vorgegebenen Kategorien setzen und auch die nur in einer sehr begrenzten Anzahl. Aber auf dich passt keine und er bräuchte Dutzende. Du wirst nie auf einen grünen Zweig kommen, das passt einfach nicht zu dir.“ Ich schlage meine Füße übereinander und strecke die Beine aus. Ich spüre Anspannung in mir aufsteigen, die ungeschminkte Wahrheit meines warnenden Ichs nimmt mir das restliche Quäntchen Mut.

„Und dazu passt, dass auch meine Männer extrem unterschiedlich waren“, grinse ich verzweifelt, mit einem letzten kläglichen Versuch, meinen Humor wiederzufinden.

„Ja, aber alle beziehungsunfähig. Wie deine Jobs nicht für die Dauer gemacht.“ Peng, das sitzt wieder, genau da, wo es weh tut.

Ich ziehe meine Knie an und umklammere sie mit den Armen. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum. Mir wird kalt. Ich höre entfernt eine Seeschwalbe rufen. Wie hat die sich hierher verirrt? Dies ist „der See“, nicht „die See“. Da hat die Seeschwalbe was verwechselt, das Meer ist von hier aus weit, auch für einen Meeresvogel, der fliegen und den direkten Weg nehmen kann, anders als ich. Manchmal reicht ein Detail, ein Wort, ein „der“ statt eines „die“ und die ganze Realität sieht anders aus. Die Realität, gibt es die überhaupt? Gibt es nicht mehrere? Sowohl physikalisch in der Quantenwelt als auch psychologisch in uns? Hat nicht jeder seine eigene? Hat nicht jeder für sich allein auch schon mehrere? Die Realität nach einer Flasche Wein am Abend sieht anders aus als die am Morgen danach. Meine Realität sieht auch anders aus, je nachdem, ob ich sie durch die leuchtende Brille meines Ichs sehe, das an sich und seine Fähigkeiten glaubt, oder durch die zerkratzen Gläser , durch die ich nur die Misserfolge in meinem Leben erkenne.

Und noch wieder anders wirke ich durch die Brille der anderen. „Sei realistisch, davon kann kein Mensch leben“, sagten mir damals schon meine Eltern, als ich erklärte, Schriftstellerin werden zu wollen. Sie haben Recht behalten, ich habe bisher von allem möglichen gelebt, nur nicht von meinem Schreiben. Aber die Realität machen wir uns alle selbst, es gibt keine objektive Wirklichkeit. Haben meine Eltern deswegen Recht behalten, weil ich es geglaubt habe? Wäre es anders gekommen, wenn ich mir eine andere Realität geschaffen hätte, eine, in der es möglich gewesen wäre, vom Schreiben leben zu können?

„Sitz‘ hier nicht rum, du erkältest dich nur, steh‘ auf, geh‘ an den Laptop und schreib‘ deine Zukunft!“ murmelt etwas in mir. Nicht genug damit, dass die warnende Stimme mein optimistisches, begeisterungsfähiges Ich immer wieder auf den Teppich zurückholt, nein, seit neustem mischt sich eine weitere innere Stimme in die Diskussion ein und behauptet, die meines zukünftigen Ichs zu sein.

„Ich werde aber nie eine Schriftstellerin sein“, maule ich dieses Ich aus der Zukunft an.

„Woher weißt du das? Du bist jetzt hier, ich aber bin in der Zukunft und ich weiß, du bist eine!“ insistiert mein Ich aus der Zukunft, viel optimistischer als das der Gegenwart.

„Quatsch, vielleicht werde ich mal eine sein, aber ich bin keine!“, kontere ich.

„Was du in der Zukunft sein wirst, das bist du auch jetzt schon. Die Zukunft ist die Gegenwart, denn sie beginnt heute. In diesem Augenblick.  Dieser Moment ist im nächsten Moment schon deine Zukunft, und wird bedingt sein durch das, was du in dem Moment davor getan hast. Also ist dieser Moment schon der Moment der Zukunft. Eine Gegenwart gibt es gewissermaßen nicht, weil jeder Moment eigentlich schon wieder vorbei ist, sobald er da ist. Und jeden Schritt, den du heute gehst, ist bereits der, der dich in der Zukunft dahin gebracht haben wird, wo du sein wirst“, philosophiert mein zukünftiges Ich weiter.

„Ey, hör auf, mir dreht sich der Kopf!“, schimpfe ich.

„Ok, einfacher. Du stehst jetzt auf, gehst jetzt an den Laptop, schreibst jetzt deinen Roman weiter, denn nur wenn du das jetzt tust, dann kannst du ihn am Ende des Sommers bei einer Agentur einreichen, und nur wenn du das tust, kannst du ausgewählt werden, und nur wenn …“

„Jaja, schon gut, schon gut! Hab‘s kapiert!“, unterbreche ich mein zukünftiges Ich. Ich atme tief durch und stehe energisch auf.

„Bravo!“ ruft mir mein zukünftiges Ich zu. „Wenn du einen Paradigmenwechsel wirklich willst, wenn du ihn mit allen Sinnen und Gefühlen erschaffst, dann kommt er. Und zwar nicht in der Zukunft, sondern sofort. Denn die Zukunft beginnt jetzt.“

Ich gehe in die Hütte zurück, die mir mein Onkel für diesen Sommer zur Verfügung gestellt hat und in der es nichts weiter als eine breite Pritsche, einen soliden Tisch, ein wackeliges Regal und einen Stromgenerator mit Dieselaggregat gibt. Damit lade ich meinen Laptop auf, während ich Licht über eine Petroleumlampe bekomme, die ich jetzt anzünde. Wenn es draußen in den frühen Morgenstunden nebelig ist, ist es in der Hütte so dunkel, dass kaum die Hand vor Augen sieht, da das kleine Fenster, vor dem der Tisch steht, nur wenig Lichtstrahlen durchlässt. 

Ich schreibe im Schein der kleinen Funzel. Mein Laptopakku wird noch ein paar Stunden halten, ehe ich den Stromgenerator zum Wiederaufladen anschmeißen muss. Er macht einen Höllenlärm und ich bin froh über jede Minute, die ich ihn nicht ertragen muss. Vielleicht kommt es mir auch nur in dieser Stille so vor, in der Stadt mit all dem Autolärm würde ich ihn wahrscheinlich kaum hören. So wie ich im Alltag mitten im Trubel meine vielen Stimmen in mir nicht wahrnehme. Hier in der Einsamkeit ist eine lauter als die andere, und es sind Dutzende. Viel mehr als nur die Warnende, die Begeistert-optimistische und die aus der Zukunft. Und alle plappern durcheinander. Wo kommen sie alle her? Wirklich von innen? Oft erscheinen sie mir, als flögen sie von außen in mich rein, aus dem Hyperraum, der, laut dem Physiker Burkhard Heim, unabhängig von Raum und Zeit existiert, und aus dem wir sämtliche geistige Inhalte für unsere Denkvorgänge abrufen. Das reaktive Denken kann immer nur im Bereich des Bekannten operieren, und kreativ sind wir nur, wenn wir Dinge aus diesem Hyperraum herausholen. Aber auch da funktionieren unsere persönlichen im Kopf installierten Programme wie Filter für das, was wir zulassen oder ausblenden wollen. Und diese Filter entscheiden über unsere Realität. Also das, was wir als Realität empfinden.

Während meine Finger über die Tasten huschen und mit Worten und Sätzen eine andere Welt kreieren, reden die Stimmen in mir weiter, leiser, gedämpfter, unbemerkter, aber ungebremst. Da ist die, die über die Realität und die neuesten Erkenntnisse über menschliches Bewusstsein philosophiert, dann die, die mich sehnsuchtsvoll über diesen Mann nachdenken lässt, der zu mir passt wie Sherlock Holmes zu Pippi Langstrumpf, und dann auch die der Mutter in mir, die sich einmischt mit Gefühlen des schlechten Gewissens, ihre Kinder für diesen Sommer zu ihren Großeltern abgeschoben zu haben. Halt, Stopp. Stimme oder Gefühl? Oh Gott, gibt es da ein Unterschied? Sind unsere Stimmen nicht zu Worten gewordene Gefühle? Ist nicht jede Geste verkörpertes Gefühl? Nichts, aber auch gar nichts tun oder denken wir ohne irgendein Gefühl. Ich unterbreche das Tippen. Eine riesige Gefühlssuppe schwappt über mich hinweg. Ich schließe die Lider. Und wo kommen diese Gedanken jetzt wieder her? Von außen oder von innen? Oft habe ich den Eindruck, dass manche Gefühle von außen in mich einströmen, genauso wie einige Gedanken und Inspirationen. Als würde mein Gehirn nicht alles eingeständig, nur aus sich heraus produzieren. Mit einem Stoßseufzer öffne ich Augen wieder und lese mir durch, was ich gerade getippt habe. Mist, es ist alles Mist! Oder? Verzweiflung überkommt mich.

Mach weiter! Was du heute tust, bestimmt dein Morgen!“, höre ich mein zukünftiges Ich flüstern.

Und was tue ich heute? Mich erneut wieder an das Schriftstellerdasein heranwagen und mich parallel auf einen Mann einlassen, der im Vergleich zu meinem bisherigen Leben wie aus einer anderen Welt erscheint. Für beides fehlt mir der Mut.

„Wer willst du morgen sein?“, fragt mich mein zukünftiges Ich.

„Morgen will ich als freischaffende Autorin leben und mit Harald zusammenziehen“, antworte ich dann.

„Dann los! Dann fang heute an, zu agieren, als wäre das Morgen schon da!“ feuert mich mein zukünftiges Ich an. Ich richte mich auf, atme tief durch, lege die Hände wieder auf die Tastatur.

„Vergiss es, das Risiko ist viel zu groß, egal, was du gemacht hast, warst du doch immer nur Angestellte, du bist kein Erfolgs- und Karrieremensch! Mach einen richtigen Job. Du hast dich nie behauptet. Das entspricht nicht deinem Charakter! Und was Harald betrifft: du bist seit fünfzehn Jahren alleinerziehend, hast noch nie richtig mit einem Mann zusammengelebt, und jetzt willst du ein trautes Heim mit einem biederen, seriösen Ministerialbeamten teilen? Vergiss es!“ Ich sacke wieder in mich zusammen.

Bin das alles Ich, diese vielen widersprüchlichen Stimmen, paradoxen Gefühle, diese unterschiedlichen Persönlichkeiten? Ich starre aus dem kleinen Fenster, auf den See, auf das andere Ufer, an dem man das Landschulheim nicht mal mehr erahnen kann. Nichts scheint auf der anderen Seite zu sein, gar nichts. Der Nebel hat sich verdichtet, die Morgensonne kann sich ihren Weg nicht durch den Dunst bahnen. Ich bin nicht Pippi Langstrumpf, denn die hatte Mut. Aber sie war auch stark, sehr stark, keiner konnte ihr was anhaben. Jeden, der ihr etwas Böses wollte, hat sie hochgenommen. Ich dagegen werde von den anderen hochgenommen. Ich bin schwach. Ich habe auch keinen Koffer voll Gold, nicht Dutzend Vornamen, sondern nur einen einzigen und der besteht sogar aus nur wenigen Buchstaben. Werden diese fünf Buchstaben je auf einem Buchdeckel stehen, als Autorenname?

Wieder lese ich mir durch, was ich bereits geschrieben habe. Es ist anders als sonst. Normalerweise schreibe ich lebhaft, witzig, mit flapsigen, spritzigen Dialogen, humoristisch beschriebene Szenen aus dem Alltag. Das hier passt nicht dazu. Diese reine Innenansicht einer einzelnen Person, die mit sich selbst redet, als habe sie einen an der Waffel. Als würde sie in der Einsamkeit schon durchdrehen. Das will kein Mensch lesen, leichte Kost wollen die Leute, wer soll das denn sonst verdauen?

Mein Magen grummelt. Ich faste gerade mit Kräutertees und Säften. Ich stehe auf, zünde den Gaskocher an und stelle den Wasserkessel darauf. Setze mich wieder hin und lese mir die letzten vier Seiten erneut durch. Nein, geht gar nicht. Stilbruch. Eigentlich wird mein Roman lustig. Eine vertrackte Liebes- und Lebensgeschichte, mit einer sympathischen, chaotischen Protagonistin, die ihren Weg durch das Dickicht des Alltags sucht. Wieso schaffe ich es oft nicht, mein Leben mit demselben Humor zu sehen, mit dem ich ihr Leben in meinem Roman beschreibe? Ist es, dass ich bei meiner Protagonistin genau weiß, sie wird es schaffen, während bei mir alles in den Sternen steht? Und wenn ich im Leben handelte, als wüsste ich bereits, dass ich es schaffe?

„Die Raupe auf dem Brennesselblatt denkt nicht an die Zukunft, fürchtet sie sich nicht vor dem Kokon und stellt ihre Wiedergeburt als Schmetterling nicht in Frage. Nur wir Menschen halten am Raupendasein fest, weil wir nicht mit Sicherheit wissen, was wir werden könnten“, philosophiert mein weises Ich. Und wenn ich einfach die Transformation anginge als wüsste ich bereits ganz sicher, dass ich ein Schmetterling würde? Die Raupe spürt es instinktiv, warum ich nicht? Vielleicht, weil eine Raupe unweigerlich nur ein Schmetterling werden kann, während ich ganz vielschichtige Entwicklungsmöglichkeiten habe? Und weil ich alles Mögliche werden kann, kann ich doch auch das werden, was ich will? Ich muss mich auch nicht in ein Schmetterling verwandeln, ich kann auch … ein Borkenkäfer werden. Der Gedanke gefällt mir. Ich grinse. Ja, da ist er, ich habe ihn wieder. Meinen Humor! Wie habe ich ihn vermisst! Er war irgendwie verschüttgegangen unter den ganzen anderen Stimmen! Ich richte mich auf, schneide die gerade geschriebenen vier Seiten wieder heraus und speichere sie in einem anderen Dokument. Vielleicht kann ich sie mal für etwas anderes gebrauchen, zum Beispiel für einen Essay über das Thema: „Wer bin ich?“ …  „Bin ich überhaupt wer?“ … „Bin ich überhaupt nur ein Einziger? Bin ich nicht eigentlich mehrere?“ Der Kessel auf dem Gaskocher pfeift. Während ich das sprudelnde Wasser in die Tasse gieße, sage ich laut in die Stille hinein: „Und jetzt bin ich die, die einen schwungvollen, humorvollen Unterhaltungsroman schreibt, den Frauen entspannt im Strandkorb lesen. Und von der meine Leserinnen denken werden: so cool möchte ich auch mal denken. Die ist sicher wie Pippi Langstrumpf“. Ich setze mich voll Elan wieder vor den Laptop und genieße meinen Schreibflow. Die Sonnenstrahlen, die sich durch den Morgennebel schälen, nehme ich kaum wahr. Alles rückt in die Ferne, der Beamte der Arbeitsagentur, der Mann, der so gar nicht zu mir passt und gar nicht verstehen würde, was ich hier schreibe, die vielen Stimmen, die zu einem gemeinsamen harmonischen Orchester werden und mich aus dem tiefsten Inneren schreiben lassen. Oder doch aus dem Außen?

Langsam taucht die kleine Insel, auf der meine  Hütte steht, aus dem Nebel auf.