“ Es gibt kein Recht der Eltern auf ihre Kinder, es gibt nur das Recht der Kinder auf die Eltern.”

Es ist eine provokative These, die meine Patchwork-Mutter damals aufstellte, die sich mir als Kind einbrannte und die ich auch heute noch, wo ich selbst seit über 20 Jahren Mutter bin und inzwischen als systemische Therapeutin arbeite, jederzeit wieder unterschreiben würde. Wieso werden viele meiner Leser dagegen erstmal Widerstand spüren? Es rumoren die Postulate der drei monotheistischen Weltreligionen in uns, dem Christentum, dem Islam und dem Judentum, die sich sowieso letztendlich dem Ursprung nach so nahe sind wie die Primatenarten untereinander, mit 98 % gemeinsamen Genen. Das vierte Gebot lautet: “Du sollst Vater und Mutter ehren”. Der Koran verlangt: “In allen Situationen müssen die Kinder ihren Eltern Liebe und Dankbarkeit zeigen. Sie müssen stets sanft und respektvoll mit ihnen sprechen. Sie müssen ihr Bestes geben, um sie glücklich zu machen, solange sie dabei nicht Allâh ungehorsam sind.”(1). Im Islam sind die Kinder also sogar für das Glück der Eltern verantwortlich. Die Tora ist in ihrer Auffassung und in ihrem Imperativ der Pflichten der Kinder ihren Eltern gegenüber auch eindeutig. Die entsprechende Aufforderung findet sich zweimal in der Tora: Im 2. Buch Mose 20,12 steht geschrieben: »Ehre Vater und Mutter, damit du lange lebst in dem Lande, das der Ewige, dein Gott, dir geben wird.« Im 5. Buch Mose 5,16: »Ehre Vater und Mutter, wie es der Ewige, dein Gott, dir befohlen hat, damit du lange lebst und es dir gut gehe auf dem Boden, den der Ewige, dein Gott, dir geben wird.«(2) Das ist eines der gleichen Genome dieser so eng verwandten Religionen. Der Hinduismus ist da sehr ambivalent, vor allem, was Mütter angeht! Eine alte Mutter ohne Sohn hat in jedem Fall schlechte Karten. Ich habe keine weitere eingehende Recherche zu anderen Religionen gemacht. Es kursieren viele Gerüchte, dass es überall Völker gegeben habe, die sich der Alten einfach entledigten, wenn sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Die meisten kennen sicher die Story, dass im Norden alte Frauen auf Eisschollen gesetzt worden wären. Tatsächlich scheint es zum Vorkommen von Senizid bei früheren Völkern nur wenig gesichertes Wissen zu geben, obwohl einige namhafte Anthropologen glauben, Hinweise gefunden zu haben. (3) . Darum geht es mir hier aber nicht, sondern um das Eltern-Kind-Verhältnis. Und den Pflichten, die aus dem Verhältnis erwachsen oder auch nicht. Wie war es vermutlich in der Zeit, als wir noch in den Höhlen, in der Steppe oder im Urwald lebten? Das ist ja immer ein beliebter Blick zur Untermauerung aller möglichen Thesen. Wohl eher wie in einer Affenhorde. In der Höhle lebte vermutlich nicht eine Familie, sondern eine Horde aus mehreren Familien, alle irgendwie miteinander verwandt und auch nicht. Die Anthropologen ziehen ja immer gerne “primitiv-lebende” Eingeborenenvölker heran, um ihre Theorien darüber aufzustellen oder andere Primatenarten. Eine Schimpansenmama weiß irgendwann nicht mehr, dass dieses andere erwachsene Schimpansenweibchen mal ihre Tochter war und diese Tochter nicht, dass diese alte Schimpansendame mal ihre Mutter. Bei unseren menschlichen Vorfahren wird sich das irgendwann mit Ausreifung des Gehirns mit dem kognitiven Erinnerungsvermögen geändert haben, aber wichtig war wahrscheinlich dennoch nur die Frage: Wie geht man überhaupt mit alten Menschen in der Horde um, wozu sind sie noch einsetzbar, welche Aufgaben können sie noch übernehmen und sei es die als wertvoller Wissensträger? Oder ist es besser, sich ihrer zu entledigen? Ob das nun zufällig die eigenen alten Eltern waren, war vermutlich nebensächlich. Der Mensch ist das einzige Tier, das irgendwann in der Moderne plötzlich auf die Idee gekommen ist, seinen Nachwuchs für sich verantwortlich zu machen. Bei allen anderen Tierarten sind es immer nur die Eltern, die verantwortlich sind für ihren Nachwuchs, nie umgekehrt. Alle Tiere vergessen sogar, wer ihre Eltern sind, spätestens dann, wenn sie geschlechtsreif werden – was durchaus Sinn macht! Ich mag es nicht, die Natur zu “vermenschlichen”, dennoch möchte ich hier sagen: Sie hat sich was dabei gedacht. Hat sie natürlich nicht. In der Natur geht es immer ums Überleben und den Arterhalt. Alte Menschen durchzufüttern, anstatt sich ihrer zu entledigen, wenn sie eine Last werden, sichert nur die Art, wenn diese noch irgendetwas zum Überleben beitragen (was durchaus Wissen, Ratschläge und weise Entscheidungen sein können). Ob das die Eltern sind oder nur andere alte Horden- oder Rudelmitglieder, ist dabei streng genommen unbedeutend. , Die Horde wurde aber irgendwann durch Familienverbände ersetzt. Es entstanden “moderne” Gesellschaften, die anders funktionierten als die “Horde aus der Höhle”. Es wurde wichtig, dass man andere Argumente fand, als alte Menschen von den jungen beschützt, ausgehalten, ernährt werden, umso mehr, als alte Menschen zunehmend überlebten, wenn man sie versorgte. Wenn man davon ausgeht, dass die zehn Gebote menschengemacht sind und nicht gottgegeben – und von der Überzeugung gehe ich hier fest aus -, dann sind sie das in Steinmeißeln von Regeln, die Sicherheit in diesen Gesellschaftsverbänden boten. Dazu gehörte, abzusichern, dass irgendjemand für mich sorgt, wenn ich alt bin. Wer? Die Kinder, denn die erziehe ich und denen kann ich von klein auf einbrennen, dass sie sich um mich zu kümmern haben, wenn ich alt werde. Ich kann sie großziehen mit dem fest verwurzelten, unumstößlichen Glaubenssatz: Du als Kind schuldest mir als deinem Vater, deiner Mutter, etwas. Keine folgende Generation hat das mehr infrage gestellt, war es doch dann jeweils die Absicherung für das eigene Altwerden. Und inzwischen hat es sich in jüdischen, christlichen und islamischen Gesellschaften als quasi unumstößliches Naturgesetz eingebrannt. Aber das ist es nicht. Es ist sogar wider der Natur, streng genommen. Ich möchte hier nicht den Diskurs ausrollen, ob wir moralische Wesen sind oder ob Moral nur erlernt ist, welche “Gebote” naturgegeben sind und welche – oder vielleicht alle – nur gesellschaftlich verwurzelt sind. Das ist ein seit dem Aufkommen der Philosophie geführter Streit. Mir geht es hier um das Thema “Verantwortung”. Wenn ich möchte, kann ich mich um meine alten Eltern kümmern – aber muss ich es aus einer moralischen Pflicht, schlimmer: einer Schuld ihnen gegenüber heraus? Bin ich meinen Eltern etwas “schuldig”? Wieso sollte ich meinen Eltern etwas “schuldig” sein? Wie habe ich mich schuldig gemacht? Ich bin als unschuldiges Wesen auf die Welt gekommen. Die typische Frage, die Kinder manchmal nörgelnd stellen, hat meiner Meinung nach eine hundertprozentige Berechtigung und spricht nur für den noch unmanipulierten Gerechtigkeitssinn: “Hat mich irgendjemand gefragt, ob ich auf die Welt kommen will?”. Und der seit Jahrzehnten kursierende Spruch: “Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht”, drückt den gleichen kritischen Gedanken aus. Die Eltern haben bewusst entschieden, diesem Kind das Leben zu geben (und sei es nur durch den gedankenlosen Akt der Zeugung ohne Vorkehrung – in jedem Fall waren sie aktiv beteiligt). Ich nutze bewusst nicht das Wort “schenken”. Keiner hat das Kind gefragt, ob es das Leben annehmen will. Und nur weil etwas geschenkt wird, muss ich es nicht nehmen und nur, weil mir etwas geschenkt wird, bin ich dem Schenkenden zu nichts verpflichtet. Wäre ja auch noch schöner! Da kommt einer daher, drückt mir etwas in die Hand, meinetwegen sogar etwas Wertvolles -, um das nicht gebeten habe – als Kind kann ich diese Eltern nicht ablehnen, ich hatte keine Wahlfreiheit – und dann soll ich demjenigen dafür etwas schuldig sein?! Das ist nicht der Sinn des Schenkens. Nur weil mein Kind das Leben, das ich ihm “schenke” (“aufdrücken” wäre das korrekte Wort), insofern annimmt, dass es lebt, ist es mir aus diesem Geschenk heraus nicht verpflichtet. Aber ich bin verpflichtet, es nach bestem Wissen und Gewissen und unter Ausschöpfung all meiner Ressourcen und Möglichkeiten nun großzuziehen, denn es war meine Wahl, diese Verantwortung zu übernehmen. Dem Kind erwächst daraus aber keine Pflicht mir gegenüber. Er ist immer noch der ungefragt Beschenkte. Es spielt dabei keine Rolle, ob das aufgezwungene Geschenk wertvoll, lebenswert oder aber vergiftet ist. Es bleibt dabei: Wenn ich jemandem ungefragt etwas schenke und derjenige nicht mal eine Wahl hatte, ob er das Geschenk annimmt, mache ich denjenigen nicht zu meinem Schuldiger. Und das ändert sich auch nicht, wenn das Kind größer wird. Man wächst nicht rein in eine Schuld für etwas, was man nicht freiwillig gewählt hat. Wenn ich es schaffe, zu meinen Kindern ein gutes Verhältnis aufzubauen, sodass sie gern mit mir zusammen sind und an meinem Sessel sitzen mögen, in dem ich alt und verknittert dem Tod entgegensehe: Beata me. Wenn meine Kinder sich aber, aus welchem Grund auch immer – und sie müssen es nicht begründen -, sich von mir abwenden, dann ist es ihr uneingeschränktes Recht. Es gibt kein: “Kind, ich habe aber doch das und das für dich getan!”, oder kein: “Kind, was habe ich dir denn getan, ich habe das nicht verdient.” ICH als Mutter, ich als Vater, bin für mein gutes Verhältnis zu meinen Kindern allein verantwortlich. Es sind nicht die Kinder dafür verantwortlich, dass sie ein gutes Verhältnis zu mir haben. Und es sind nicht sie in der Schuld, zu erklären, warum das Verhältnis vielleicht nicht gut ist. Wenn es schlecht geht, dürfen sie sich umdrehen und gehen. Den Kontakt spärlich halten oder ihn auch ganz abbrechen. Punkt. Ohne “Wenn” und “Aber” und ohne Begründung. Aus meiner therapeutischen Erfahrung heraus erlebe ich allerdings immer wieder, dass es eigentlich immer einen guten Grund gibt, warum Kinder sich von den Eltern abwenden. Kein Kind, dessen Überleben jahrzehntelang abhängig war von den Eltern, wendet sich gänzlich ohne Grund ab. Aber es ist nicht am (erwachsenen) Kind, das zu erklären oder zu begründen. Denn es gibt kein Recht der Eltern auf ihre Kinder. Nur das Recht der Kinder auf Eltern. Diese Kinder sind dann übrigens ihrerseits irgendwann ihren Kindern verpflichtet. Der Staffelstab wird so immer weitergereicht. Das hat die Natur sich schon schlau überlegt.

Diesmal sehr wenig Quellen, da alles auf meinem geistigen Mist gewachsen ist 🙂

(1) https://islamweb.net/de/article/151984/Die-Wichtigkeit-des-Gehorsams-gegen%C3%BCber-den-Eltern
(2) https://www.juedische-allgemeine.de/religion/mit-respekt/
(3) https://www.nzz.ch/wissenschaft/senizid-gab-es-die-toetung-der-alten-ld.1792348

Bild: shutterstock, KI generiert

Gibt es ein Recht der Eltern auf ihre Kinder?

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